Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
zu lassen. Sie treffen sich mit ihren Berliner Freunden Ruth und Heinz Warschauer, Irma und Leo Bachschall und Lothar und Else Lisser zu Rouladen und Königsberger Klopsen. Hannah bereitet die rote Grütze für den Nachtisch zu. Man erzählt sich Geschichten mit diesem schnellen Berliner Witz. Der Freundeskreis erweitert sich, als Gustav Segal im «Aufbau» eine Anzeige schaltet, um Überlebende seines «Berliner Ruder-Club Oberspree» zu finden. Mehrere ehemalige Mitglieder melden sich. Man stellt seine eigene Berliner Weiße her. Und vor allem spricht man Deutsch.
Die Männer haben mehr Mühe, sich zu integrieren, als die Frauen. Manche von ihnen können kaum Englisch. Die Segals tätigen ihre Einkäufe in den Geschäften der 86 th Street, von den New Yorkern «German Broadway» genannt. Hier wird Sauerbraten, Knackwurst, Hering, Schwarzbrot, Räucheraal angeboten. Auf dem Weg zum Strand legt Gustav Segal stets in der 86 th Street einen Halt ein. Er kauft Schmalz und Leberwurst für die belegten Brote. Und zu Weihnachten gibt es einen
bunten Teller
mit Marzipan, Pfefferkuchen und Bahlsen-Keksen. Was Hannah nicht hindert, zu beteuern: «Ich fühle mich als Amerikanerin, auch wenn ich meine Vergangenheit nicht abschütteln kann. Ich bin als Berlinerin geboren. Ich hatte eine sehr schöne Kindheit dort. Wenn ich an Deutschland denke, denn denke ich an die guten Dinge in meinem Leben.»
Als ich wieder in Berlin bin, schicke ich Hannah ein Foto von meinem Balkon über der Straße. Ich trage das Kleid. Einige Tage darauf erhalte ich von ihr eine E-Mail auf Deutsch: «Meine Freundin bleibt unvergessen. Was sie auch verdient. Sie sehen so großartig aus auf dem Balkon in der Straße, wo Susanne wohnte, und ich fühle sehr stark, dass dieses Kleid bei Ihnen bleiben muss und nicht in einem Museum – wo man es sieht, aber nicht die Umstände kennt. Irgendwie fühle ich mich erleichtert, wenn das Kleid in Ihrer Straße bleibt! Bitte tragen Sie es, und Susanne kann ruhen! Ich auch. Und ein Buch über ‹ein Kleid›, das eine Weltreise macht und nach über 70 Jahren unversehrt zurückkehrt, sollte ein gutes Thema sein! Nun genug für heute, bitte die vielen Tip Fehler zu entschuldigen! Meine Gedanken gehen immer schneller als meine Finger auf der Maschine! Herzliche Grüße von Ihrer Hannah.»
Ganz der Vater!
Liselotte steht aufrecht vor dem Badezimmerspiegel, die Schere in der Hand. Einmal Zwetschge. Zweimal Zwetschge. Weg sind die beiden blonden Zöpfe. Von entschlossener Hand abgeschnitten. Ohne zu zittern. Sie rollt sie in Seidenpapier, legt sie in eine Pappschachtel, schreibt Name und Adresse ihres Vaters drauf, Gustav Bickenbach, Festungsbau-Hauptmann, Gadebuschstraße 30 , Swinemünde, Ostsee. Dann bringt sie ihr Päckchen zur Post. Es war die erste Geste der jungen Frau, als sie am 1 . Februar 1935 ins Haus Nummer 3 am Platz einzieht, der meine Straße in zwei Teile trennt.
Liselotte Bickenbach ist 19 , und das ist ihre Weise, mit dem preußischen Geist Schluss zu machen, der im väterlichen Haus in Swinemünde weht. Bei Tisch die Ellbogen an die Seite gepresst. Den Rücken grade, sodass er die Lehne kaum berührt. Die Haare zu langen strengen Zöpfen gebändigt. Gustav Bickenbach, Absolvent der Offiziersschule Metz, ist nach Swinemünde versetzt worden. Dort ist er für die Festungsanlagen entlang der Ostseeküste zuständig. Nach der Trauung mit Dorothea Margarete Helene Lau am 12 . September 1910 posiert Gustav Bickenbach auf der Kirchentreppe: Uniform, weiße Handschuhe, Pickelhaube, dreister Schnurrbart, Absätze aneinandergepresst und am Arm die junge Braut. In ihrem großen weißen Haus gleich neben der Kaserne herrschen preußische Tugenden: Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Sparsamkeit, Aufopferungsbereitschaft, dazu die Disziplin des Kaiserlichen Offizierskorps: politische Enthaltsamkeit und absoluter Gehorsam gegenüber der Führung.
Berlin ist für Liselotte auch die Möglichkeit, den Fängen ihrer Mutter zu entkommen. Eine strenge Frau, die nur einen Gedanken im Kopf hat: eine gute Partie für ihre Tochter zu finden, mit Vorliebe einen jungen Offizier mit Anstand und Ehrgeiz. Liselotte hat keine Lust mehr, sonntags in ihrer Begleitung die Promenade von Swinemünde auf und ab zu gehen. Auch wenn sie zum Tanztee geht, kommt die Mutter mit. Und weil Dorothea Bickenbach ihrer Tochter nicht erlaubt, auf das mehrheitlich von Jungen besuchte Gymnasium zu gehen, sieht sich Liselotte dazu
Weitere Kostenlose Bücher