Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Minuten zwischen einem
Hot Club Sandwich
und einem
Peanuts Sponge Bar
gewählt. Doch die Vereinigten Staaten treten in den Krieg ein und die unverheirateten Männer werden automatisch eingezogen. Die Mütter sind der Ansicht, das sei nicht der Moment zu trödeln und sich wählerisch zu zeigen. Es muss so schnell wie möglich geheiratet werden.
«Am 11 . Dezember sahen wir uns zum ersten Mal. Am 31 . Januar heirateten wir. Nach nur drei Begegnungen», amüsiert sich Hannah, der Wirkung sicher, die ihre Geschichte von der überstürzten Heirat haben wird. «Die Ehe hat immerhin 49 Jahre gehalten!», lacht Evelyn. Zwei Monate später ist Hannah schwanger. Sie arbeitet nachts in einem Nightclub und kommt um 3 Uhr morgens nach Hause. Gustav arbeitet tagsüber in einer Waffenfabrik und kehrt um 5 Uhr zurück. Zwei Stunden Eheleben am frühen Morgen. Etwas knapp, um sich kennenzulernen. Hannah gibt das Tanzen auf. 1945 kommt Evelyn zur Welt.
Nach dem Krieg wird Gustav Segal Gebäudemaler. Er erfindet das «Stippling», eine Technik, die darin besteht, die Farbe mit zusammengeknülltem Zeitungspapier an die Mauer zu tupfen. «So entstehen keine Flecken und Fingerabdrücke, und es sieht aus wie Tapete», demonstriert er seinen Kunden. Und wenn diese die Mundwinkel skeptisch nach unten ziehen, zückt Gustav Segal das entscheidende Argument: «Es stammt aus Deutschland!» Die Kunden vergessen den Krieg und seinen Horror. Deutsche Handwerker sind zuverlässig. Die Stempeltechnik macht Furore in Brooklyn.
Evelyn hatte nie das Gefühl gehabt, ihre Eltern seien arm. Dienstags gab’s
Corned beef and potatoes
, mittwochs Spaghetti. Hannah und Gustav müssen auch für ihre Mütter aufkommen. Als Hannah wieder zu arbeiten beginnt, kümmern sich die beiden deutschen
grannies
um Evelyn. Zum Entsetzen ihrer Eltern spricht Evelyn Englisch mit deutschem Akzent. «Ich ging die Wände hoch!», ruft Hannah aus. «Ich wollte ein amerikanisches Kind!» Resultat: Evelyn spricht kein Deutsch. Nur ein paar einzelne Wörter: «rote Grütze», «Königsberger Klopse». Sie ist, mit ihrem Hosenkostüm und ihren Sneakers, durch und durch Amerikanerin.
1947 gründet Hannah ihre Tanzschule. Max Terpis hatte Hannah bereits in Berlin vorgewarnt: «Mit deiner Morphologie wirst du nie eine Spitzentänzerin.» Also brachte er ihr das Unterrichten bei. Zunächst gibt Hannah Evelyn und drei ihrer Freundinnen im Wohnzimmer Stunden, bevor sie ein paar Jahre später ihr eigenes Studio eröffnet, die Hannah Kroner School of Dance. Die Wände in der Tanzschule profitieren noch heute von der Stempeltechnik, die unter den Stangen eingesetzt wurde, damit die Füße keine Abdrücke hinterlassen. Über dem Empfang erinnert ein Foto an den 65 . Geburtstag der Schule. Hannah thront auf dem Ehrenplatz am Ende der Festtafel. Ihr Gesicht ragt aus einer Hecke von fächerartig angeordneten rosa Servietten, Champagnerflöten, silbrigen Luftschlangen und weiß-rosa Nelkensträußen hervor. Rosa ist die obligatorische Farbe der Strümpfe und Trikots der kleinen Schülerinnen. Hannahs Lächeln wirkt ein bisschen verkrampft auf dem Bild, aber der Stolz ist ihr anzusehen: «Es ist der Tanz, der mich beschützt und gerettet hat.»
An den Wänden der Hannah Kroner School of Dance hängen Fotos illustrer ehemaliger Schüler. Einige von ihnen haben es zu Hannahs Genugtuung an den Broadway geschafft. An diesen Broadway, den die Kroners, als sie in New York ankamen, begeistert von einem Ende zum andern abgelaufen haben. Doch der Broadway ist nicht der kleine Kurfürstendamm. Beim stundenlangen Gehen ist ihnen bewusst geworden, dass sie aus einem Liliputland stammen. Das große Deutschland, das sie terrorisiert hat, ist plötzlich zusammengeschrumpft und macht ihnen nicht mehr so viel Angst.
An der Hannah Kroner School of Dance kennt niemand die Herkunft ihrer Gründerin. Der Schulprospekt vermerkt nur, dass Hannah das Tanzen
in Europe
gelernt hat. Hannah und ihr Mann fanden es nach dem Krieg nicht nötig, an die große Glocke zu hängen, dass sie Juden und Deutsche waren. Es gab damals in den Vereinigten Staaten viele Ressentiments gegen die Deutschen, und es gab auch Antisemitismus. Sie schicken ihre Tochter Evelyn in die katholische Schule des Viertels. Wie oft hat Evelyn am Fronleichnams- oder Dreikönigstag allein vor verschlossener Tür gestanden. Wie oft hat sie sich fremd gefühlt.
Um ihr Heimweh zu bekämpfen, versuchen die Segals in New York Berlin wiederaufleben
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