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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Sperling anvertraut. Im August informiert Ulrich Sperling das Baupolizeiamt Schöneberg, dass sich auf der Baustelle ein tödlicher Unfall ereignet hat: «Am heutigen Tage hat sich gegen 8  Uhr früh ein Unfall zugetragen. Der Arbeiter Paul Schlag ist mit einem Balkon aus dem 3 . Stockwerk abgestürzt und dabei lebensgefährlich verletzt worden. In der Zwischenzeit ist er gestorben. Die Kriminalpolizei hat sofort an Ort und Stelle alle Aussagen festgehalten und fotografische Aufnahmen gemacht.» Am nächsten Tag wird im Polizeibericht die Identität des Betroffenen bekanntgegeben: Paul Artur Schlag, geboren am 20 . Mai 1908 in Leipzig, Elektromonteur, geschieden, katholisch, deutsch.
    Einige Monate später, am 13 . Januar 1955 , beklagt sich Walter Schäfer, Eigentümer einer Großhandels-Agentur für Textilien, der in der Nummer  25 wohnt, beim Baupolizeiamt über die «endlos dauernden Enttrümmerungsarbeiten» in der Teilruine ihm gegenüber: «Das ganze Unternehmen verfolgte offensichtlich nur den Zweck, die mit großer Vorsicht heil geborgenen Steine für Handelszwecke fortzuschaffen. Alles andere blieb liegen, und Sie wollen sich bitte durch Augenschein überzeugen, dass der jetzt geschaffene Zustand einen Schandfleck darstellt. Der Wind treibt den Trümmerstaub in die Höhe und durch die verschlossenen Fenster meiner Wohnung.
    Ich bin der Meinung, dass es nicht zulässig ist, ein Trümmergrundstück als Steinbruch zu betrachten, alles, was irgendwie einen Handelswert hat, auszuschlachten, und wenn dann die Sache nicht mehr lohnt, eine Trümmerstätte zurückzulassen, die schlimmer aussieht als im Jahre 1945 nach einem Bombenangriff. Dass bei diesen Arbeiten ein Mann tödlich verunglückte, ist bekannt. Dass die überbelasteten Decken und Kellergewölbe immer dann zusammenbrachen, wenn zufällig kein Arbeiter darauf stand, ist ein Glücksumstand.»
     
    Genauso hatte sich Frau Rath als Kind im Religionsunterricht die Apokalypse vorgestellt: «Unsere schöne Straße wurde dem Erdboden gleichgemacht. Ich habe so lange geweint. Das sah aus! Ruine! Ruine! Die ganze Ecke, alles war weg. Alles kaputt. Asche und Schutt. Die 25 stand noch, aber der Seitenflügel war weg.» Frau Rath ist 96 , als ich sie in ihrem Altersheim wenige Schritte von meiner Straße entfernt besuche. Ihre ehemaligen Flurnachbarn aus der Nummer  25 haben mich auf sie aufmerksam gemacht. Frau Rath kennt sämtliche Geschichten unserer Straße. Sie bezog während des Krieges die Nummer  25 und hat ihre Wohnung erst vor kurzem verlassen. Meine Nachbarn haben sie auf dem Markt getroffen. Es ging ihr prächtig. «Nutzen Sie es», sagten sie. «Mit 96 ist man Zeuge eines ganzen Jahrhunderts. Aber manchmal steigt der Kopf von einem Tag zum anderen aus, und flutsch! Es bleibt keine einzige Erinnerung.»
    Ich spürte, dass Eile geboten war. Schwester Sylvia, die Sprechstundenhilfe des Arztes aus der Nummer  26 , bestätigte mir: «Frau Rath! Eine ganz Liebe! Und glauben Sie mir, in ihrem Alter sind nicht alle so. Frau Rath hat den Kopf noch ganz beisammen, und ich bin sicher, sie würde sich über Besuch sehr freuen. Genau das fehlt allen unseren alten Patienten: jemand, der sich für sie und ihr Leben interessiert.» Also verlasse ich mich ganz auf Schwester Sylvia. Schwester Sylvia ist eine unersetzliche Spürnase bei meiner Jagd nach uralten Damen aus meiner Straße. Stets lächelnd, stets gutgelaunt, ist sie die lebende Verkörperung der Maximen aus dem Lebensfreude-Kalender, der im Empfang der Arztpraxis über ihrem Kopf hängt. Jedes Mal, wenn ich bei Schwester Sylvia war, hatte mein Leben wieder einen Sinn. Alles klar! Diesmal habe ich es wirklich begriffen! «Buche Fehler und Misserfolge auf das Konto Lebenserfahrung!», «Glück und Zufriedenheit kannst du nur in dir selbst finden!», «Suche die offenen Türen, statt auf die verschlossenen zu blicken!», «In jedem Übel steckt etwas Gutes, du musst es nur erkennen!» Dieses schlichte do it yourself ist ein wirksames Heilmittel gegen metaphysischen Schwindel jeder Art.
    Schwester Sylvia kennt, da bin ich mir sicher, die bestgehüteten Geheimnisse meiner Straße. Nur schade, dass sie stumm ist wie ein Grab. Ich besuche sie regelmäßig. Dann leckt sie ihren Zeigefinger ab und blättert in dem hölzernen Karteikasten, in dem ihre Patienten in alphabetischer Reihenfolge auf Kärtchen festgehalten sind: «Mmm … schauen wir mal … Wen haben wir denn da … Nee, die Dame ist viel zu

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