Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
ausfrage. Ich habe sie aufgesucht, um ein wenig durchzuatmen. Er beschreibt mir einen schwarzen Pilz, der die Atemwege zerfrisst und die Lungen in einen Löcherschwamm verwandelt. Wir lachen etwas verlegen. «Wahrscheinlich sind die Unterlagen während des Krieges in einem feuchten Keller falsch gelagert worden. Man sieht den Schimmel jahrelang nicht, und plötzlich kommt er hoch, wenn die Bedingungen da sind.» Es war mir nicht gestattet, einen Blick auf die Unterlagen zu werfen, und ich hatte das seltsame Gefühl, dass Charlotte May sich schützt. Sie will diese obszöne Entblößung nicht. Sie hüllt sich in einen Schleier aus Schimmel. Sie verstummt. Ich bin froh darum.
Die einzige Information, die der Schnellhefter der Helene May hergibt, ist, dass Herr Rath am 20 . April 1943 die Möbel der Mays kauft. «Ganz bestimmt unter Wert. Ein Schnäppchen», sagt mir die Archivarin. Trotzdem hatte Frau Rath den Eindruck, den Kürzeren gezogen zu haben, als sie es sich in diesen herrschaftlichen, aber sehr alten Möbeln gemütlich macht. «Bei mir war alles neu gewesen!» Die Raths hatten ihre Wohnung, kurz bevor sie ausgebombt wurden, von Grund auf renoviert.
Frau Rath wirft den Portiers der Straße vor, sich nach dem Weggang der Juden so schlecht benommen zu haben. «Sie haben sich alles unter den Nagel gerissen», sagt sie. «Sie hatten einen Schlüsselbund für die Wohnungen. Sobald die Lastwagen, die die Juden holten, um die Ecke bogen, stürzten sie sich in die leeren Wohnungen. Sie bedienten sich, bevor das Siegel angebracht wurde: die Teppiche, die Pelzmäntel, die feine Wäsche. Es blieben nur noch die Schränke. Die hätten sie nicht rausgekriegt. Sonst hätten sie sie auch rumgeschleppt. Eine unverhoffte Beute. Sie haben alles weiterverkauft. Und dann hieß es, es war die Gestapo. Nein, es waren die Portiers! Sie hatten sich schön eingerichtet. Nach dem Krieg hatten sie in ihrer Stube Perserteppiche übereinandergestapelt. Und wir hatten eine kleine kaputte Bude oben!» Nach dem Krieg trägt die Zeitungsfrau einen Nerzmantel, «während der Kristallnacht aus dem Schaufenster eines Geschäfts gestohlen», flüstert man, wenn sie vorbeigeht. Die Portiersfrauen tragen Astrachan und Otter. Die Mäntel rochen noch nach dem Moschusparfüm der Vorgängerin. In den Unterlagen der zahlreichen Restitutionsprozesse, die in den fünfziger Jahren von den Nachkommen jüdischer Mieter meiner Straße angestrengt wurden, wimmelt es von diesen Objekten, die genauso verschollen sind wie ihre Besitzer.
In den fünfziger Jahren ist meine Straße bedrückt, leise und ganz klein. Es sind traurige, graue, stumme Zeiten. So vieles ist verloren. So viele sind gestorben. Meine Straße gleicht einem Hof der Wunder, in dem unheimliche Wesen umherirren. «Dem einen fehlt ein Bein, dem andern ein Stück Kinn, ein Auge», zählt Frau Rath auf. Man nennt sie die Kriegsversehrten. Ihre Holzkrücken hämmern auf das Straßenpflaster. Ihre Stummel in den abgenähten Hosen sind in Gaze gewickelt, als wären sie einbalsamiert. Sie sind in genauso schlechter Verfassung wie die Gebäude. Bei ihrem Anblick kann man sich vor Augen führen, was sich an dieser so abstrakten Ostfront abgespielt hat. Noch sehr lange zierten Papierfetzen mit dem Namen und manchmal dem Foto eines vermissten Soldaten die Häuserruinen meiner Straße: «Wer kennt Wilhelm Strutz?», «Bruder vermisst!» Wenn man auf der Straße Nachbarn trifft, unterhält man sich nicht über das Wetter. Man zählt seine Toten. Frau Raths Lieblingsbruder ist in Stalingrad geblieben. «Geblieben», sagt sie … Als hätte er aus freiem Willen entschieden, nicht nach Hause zurückzukehren. In der Straße herrscht «Herrenknappheit». Frau Rath rechnet amüsiert: «Die Proportion war ungefähr ein Mann auf drei Frauen. Diese Herren hatten nur die Qual der Wahl. Sie können sich denken, dass sie es ausgenutzt haben!»
Meine Straße entfaltet eine ungeheure Energie, um wieder einen Anschein von Alltag herzustellen. «Not macht erfinderisch», sagt Frau Rath. Nach dem Krieg drehte sich alles darum, das Notwendigste für den Alltag zu organisieren: Kleidung, Baumaterial und vor allem Nahrungsmittel. In West-Berlin gab es Lebensmittelkarten für Eier und Milchpulver, getrocknete Kartoffeln, einen Klecks Margarine, Möhrenstücke. Die Versorgung war schlecht. Es brauchte Organisationstalent. Aus alten Kleidern wurden neue gemacht, und die Sachen sahen trotzdem schön aus. Aus dem
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