Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
keuchen: «Oben weht eine frische Brise. Bei klarer Sicht bietet sich ein überraschendes Panorama. Über die Dächer von Berlin hinweg geht der Blick bis zur Havel. Ganz nah erscheint der Flughafen Tempelhof, und in Richtung Stadtmitte blinken und funkeln Türme und Kuppeln in der Junisonne. Mit einem Fernglas erkennt man sogar die Funktürme von Nauen.»
Deutlich schlägt mir aus diesen Zeilen die Gabe der Berliner entgegen, dem Schicksal die Stirn zu bieten und sich ganz unverfroren selbst zu feiern. Wie die buddhistischen Priester münzen sie die Krise in eine Chance um. Die Stadt ist nur noch ein Haufen Trümmer? Dann machen wir aus ihnen das Rom an der Spree und fügen gleich noch fünf zusätzliche Hügel hinzu, um die Überlegenheit über die Ewige Stadt auch gut zum Ausdruck zu bringen. Die Bombardements haben Hunderte von Straßen dem Erdboden gleichgemacht? Dank der Effizienz der Royal Air Force kann man heute das Dach der Welt besteigen und weit, weit in die unendliche Ferne blicken. «So wächst langsam Jras übern zweeten Weltkriech!», sagen auf einer Zeichnung zum Gedenken des zehnten Jahrestags des Insulaners zwei Männer mit Hut hoch auf einem begrünten Hügel zueinander.
1951 wurde in den Schulen des Bezirks ein Wettbewerb zur Findung eines Namens für den Trümmerberg ausgeschrieben. Die Zettel mit den Schülervorschlägen sprechen Bände über den Symbolgehalt, der einem Haufen Trümmer zugeschrieben wird. Da gibt es die pragmatischen Adepten nüchterner Tatsachen: «Schuttberg», «Steinberg», «Trümmerberg», «Ruinenberg», «Berg der tausend Steine», «Berg der fleißigen Hände» oder «Aufbau-Berg». Dann die Phantasielosen, die vorschlagen: «Berg der guten Aussicht» oder «Berliner Berg». Anderen schwebt eher etwas Idyllisches, Liebliches vor: «Blumenberg», «Grüne Kuppe», «Spatzenideal», und wieder andere plädieren gerührt für «Kleener Berliner» oder «Schöneberger Buckel». Manche lassen sich gar zum Größenwahn hinreißen: «Schöneberger Hochgebirge», «Berliner Zugspitze», «Trümmeralm», «Schöneberger Alpen», «Berliner Alpspitze». Die Klasse allerdings, die den «Schöneberger Olymp» ins Spiel brachte, ist meiner Meinung nach einer wahren Halluzination erlegen. So traurig es ist, aber die Befürworter von «Schöneberger Krümelchen» scheinen mir eine etwas realistischere Vision von der Geologie ihrer Stadt gehabt zu haben. Auffallend ist die hohe Zahl derer, die leiden oder Buße tun: «Elendsberg», «Leidensberg», «Berg der Müh und Not», «Berg des Vergessens», «Berg der schrecklichen Erinnerungen» und nicht zuletzt «Mahnberg», mit einem zum Himmel erhobenen Zeigefinger.
Am Tag der Einweihung, am 11 . August 1951 , empfängt das Berliner Tonkünstler-Orchester die Würdenträger mit dem
Festlichen Einzug
von Richard Strauss. Frau Bezirksbürgermeisterin Dr. Ella Barowsky tauft auf den Namen «Insulaner». Der Präsident des Abgeordnetenhauses, Dr. Otto Suhr, hält eine flammende Rede: «Dieser Berg ist ein Symbol für den Behauptungswillen der Berliner, der Berge zu versetzen vermag.» Der Regierende Bürgermeister Professor Doktor Ernst Reuter enthüllt einen Gedenkstein mit dem Epitaph: «‹Der Insulaner›. Geschaffen in den Jahren 1946 bis 1951 aus Trümmern des Zweiten Weltkrieges trotz Not und Blockade.» Zum Abschluss stimmt das Orchester das Lied «Es war in Schöneberg, im Monat Mai …» an, das Walter Kollo aus der Nummer 26 meiner Straße komponierte. Ich bin sicher, es handelt sich dabei um eine spezielle Hommage an meine Straße, um sich bei ihr für ihren substanziellen Beitrag erkenntlich zu zeigen. Schließlich verdankt der Insulaner ihr mehrere Meter seiner Höhe! «Im Anschluss daran unternahmen die beiden dem Gartenbauamt unterstehenden Parkwächter ihre ersten Kontrollgänge. Sie bezeichnen sich selbst als gute Geister des Berges, einer von ihnen ist ein ehemaliger Zauberkünstler», schließt
Die neue Zeitung
, womit sie den Trümmerhaufen zum Zauberberg macht.
An jenem Februarnachmittag 62 Jahre später hat der Insulaner, wie ich zugeben muss, einiges von seinem Glanz verloren. Der Mount Everest ist im Lauf der Zeit sogar – die Berliner mögen mir diese wenig einfühlsame Metapher verzeihen – zusammengesackt wie ein Käsesoufflé, wenn die Gäste sich verspäten. Auf meinem Spaziergang verließ ich den asphaltierten Weg, der zur Sternwarte auf dem Gipfel dieses mit seinen überquellenden
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