Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
Vom Netzwerk:
reichen sie! Treppen gibt es keine mehr! Sie machen in den Kellern kleine Lagerfeuer, lassen auf dem Brachgelände ihre Drachen steigen. Ein Nachbar erzählte mir von dem Fund, den er mit seiner jugendlichen Bande in der ausgesprochen großzügigen Kellerruine der Nummer  10 machte: ein Riesenstapel alter Pornohefte. Üppige nackte Brüste in Weißbraun. Ein erotischer Schatz mitten im Trümmerhaufen!
    Dieses anarchistische Leben in der Ruine nebenan verschafft der Katharina Tschiersch, Hochparterre Nummer  6 A, ein Ziel in ihrem trostlosen Leben als geschiedene Rentnerin. Sie reicht beim Polizeirevier eine Klage nach der andern ein. Füllt Seite um Seite des linierten Schülerpapiers mit ihrer kleinen, bösen Handschrift. Jahrelang denunziert sie bei der Polizei die Knirpse, die auf dem Brachgelände unter ihrem Balkon Fußball spielen.
    Ich sehe sie vor mir, eine grämliche, gehässige kleine Alte, die hinter ihren Tüllgardinen versteckt das Treiben der Straße ausspäht. Und dann auf einmal ein sadistisches Zusammenzucken, wenn ein Ball durch die Luft fliegt. Das Protokoll des Polizeibeamten gibt das Klima dieser strengen Epoche wieder: «Frau Tschiersch ist durch Rückgrat-, Hüft- und Beinerkrankungen teilweise gelähmt und dadurch besonders an ihre Wohnung gebunden. Durch ihre Krankheit ist Frau T. gegen jeglichen Lärm besonders empfindlich, zumal sie sich überwiegend allein überlassen ist. Die Entfernung von ihrem Balkon bis zum Anfang des Ruinenstückes beträgt etwa 20 bis 25  m. Auf Anordnung des Reviervorstehers wurde die Straße im Rahmen des Straßenaufsichtsdienstes so weit als möglich begangen und festgestelltes Fußballspielen durch die Beamten unterbunden. Nach mehreren Schreiben der T. wurde die Straße täglich in den Nachmittags- und Abendstunden begangen. In dieser Zeit wurden zweimal Kinder bzw. Jugendliche beim Fußballspielen mit einem kleinen Gummiball auf dem Grundstück angetroffen. Die Personalien der Betreffenden wurden festgestellt und die Erziehungsberechtigten auf den Revieren ermahnt.» Einige Tage später geht eine erneute Klage der Frau Tschiersch ein, diesmal über das Rollerfahren auf dem ausgehobenen Grundstück. Nach einem langen Hin und Her anerbietet sich schließlich Frau Günther, die Flurnachbarin der Frau Tschiersch, «das Revier fernmündlich zu benachrichtigen», wenn die Bewohner «sich in ihrer Ruhe beeinträchtigt fühlen». Die wilden Spielplätze werden eingezäunt.
     
    Meine Straße gleicht einer Konstruktion aus einem Meccano-Baukasten von damals, die beim geringsten Windhauch in sich zusammenfällt. Das Baupolizeiamt Schöneberg befindet sich in ständigem Alarmzustand. In der Nummer  8 : «Durch die Kriegsereignisse ist das Vorderhaus zerstört. So steht eine Ruine, die einzustürzen droht und die öffentliche Sicherheit gefährdet.» In der Nummer  4 : «Eigentümer: nicht zu ermitteln! Ruine ausgebrannt. Muss gesprengt oder abgetragen werden! Einsturzgefahr! Das Grundstück soll für den Wiederaufbau abgeräumt werden.» Am 31 . Mai 1949 fertigt der Architekt W. Rerenkothen einen Bericht über die Nummer  6 an: «Ausgeschlachtete Ruine. Ohne Dach durch Feuchtigkeit Einsturzgefahr. Vdhs. 1 . Stock wohnt Mieter Hermann unter unglaublichen Verhältnissen!! Mieter muss ausziehen.» Ende des Jahres erhalten die Mieter des Hauses ein Einschreiben vom Baupolizeiamt Schöneberg: «Wir müssen Ihnen zu unserem Bedauern untersagen, Ihre Wohnung ab sofort noch als Aufenthaltsräume (als Wohn-, Schlaf-, Geschäfts- oder Arbeitsräume) zu benutzen oder benutzen zu lassen.» Durch das Mauerwerk ziehen sich Risse. Mürbe gewordene Fassadenteile stürzen auf die Straße. Mehrere Häuser haben kein Dach mehr. Es gibt gefährliche Brandmauern, Schornsteine, Dachaufbauten, Balkone und Erker. Die Balken sind durch den Schutt überlastet oder fangen an zu faulen. Durch die in feuchten Hinterhöfen lagernden Schuttmassen entsteht Schwammgefahr. Die Eigentümer versuchen zu reparieren und abzudichten. Aber es fehlt an Baumaterial. Überall werden Notdächer errichtet, Löcher gestopft.
    Das Archiv der Baupolizei hält den Leidensweg des Hauses Nummer  6 fest, an dessen Stelle sich heute ein kleiner gelbfarbener Block mit vier Stockwerken befindet. In der Brandmauer gibt es einen zehn Meter langen Riss. Am 12 . Mai 1954 erhält die Eigentümerin Frau Frieda Kottke den Abbruchschein Nº  182 / 54 . Abbruch und Enttrümmerung des Gebäudes wird der Firma Ulrich

Weitere Kostenlose Bücher