Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
ohne eine Adresse zu hinterlassen und ohne ihren Haushalt mitzunehmen.
«Ich kannte die nicht. Eines Tages waren die Mays weg!» Wie die Kaninchen, die beim Zaubertrick verschwinden. Und hopp! Weg sind sie! Eine ganze Familie von einem großen Klappzylinder verschluckt. In meiner Straße wunderten sich nur wenige über diesen verblüffenden Zaubertrick. Weg, ein kurzes, knappes Wort, so imperativ, dass es keine Frage in seinem Gefolge duldet. Auf einmal ist es in der Wohnung des zweiten Stockwerks still geworden. Keine nachbarschaftlichen Geräusche mehr, die in einem Wohnhaus die Musik ausmachen: das knarrende Parkett im Stockwerk über einem, ein nächtlicher Hustenanfall, das fast unhörbare Surren einer Nähmaschine, das Rauschen der Wasserspülung und der Armaturen … «Ja», wiederholt Frau Rath, «sie waren einfach weg! Sie waren Juden. Man konnte sich was denken …» Jeder kann sich die Fortsetzung hinter den Auslassungspunkten dieses abgebrochenen Satzes selbst denken.
Aus dem Berliner Gedenkbuch erfährt man, dass die Wohnung, in der sich Frau Rath niederließ, von zwei Frauen bewohnt gewesen war, Helene und Charlotte May, Mutter und Tochter. Helene May, geboren 1864 in Gembitz, Posen, gehörte zum 54 . «Alterstransport» vom 1 . September 1942 Richtung Theresienstadt. Todesort Minsk. Charlotte May, geboren 1896 in Breslau, gehörte zum 29 . Transport, der Berlin einige Monate später verließ, am 19 . Februar 1943 . Sie starb in Auschwitz. Neben den Namen der beiden Frauen die Bemerkung «verschollen».
Ich wollte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in der Nähe von Potsdam die Vermögenserklärung der beiden Frauen einsehen. Auf einem bewaldeten Hügel hinter einer schier endlosen Reihe von Vororten, weit von meiner Straße entfernt, hoffte ich, etwas mehr über ihre Identität und vielleicht über ihr Leben zu erfahren. Auf dem Tisch, der mir im Lesesaal reserviert war, nur ein ganz dünner graublauer Schnellhefter, mit der Aufschrift «Helene May», geborene Lewin, verwitwet, ohne Beruf, Jüdin, seit dem 1 . April 1937 Bewohnerin der Nummer 25 . Kurz vor ihrer Deportation musste die alte Dame für die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg ein Formular mit der Liste ihres gesamten Vermögens (aktiv und passiv) im In- und Ausland ausfüllen: Bargeldbestand, Guthaben bei Geldinstituten, Wertpapiere, Inhalt eines eventuellen Panzerschließfachs, Grundstücke, Versicherungen, Anspruch auf Gehalt, Provisionen, Pensionen, Renten, Kautionen, Erbschaften oder Vermächtnisse, Nießbrauchrechte, Ansprüche aus Lizenzverträgen, Patent-, Urheber-, Marken- und Musterschutzrechte, sämtliche Schulden und Steuerrückstände, offene Strom- und Gasrechnungen, Wohnungsinventar und Kleidungsstücke (Anzahl und Wertangaben) von den Deckenlampen und Plumeaus bis zu den Uniformen, Smokings und Schlafanzügen der Herren und den Strumpfpaaren, der Wäsche und den Skistiefeln der Damen. Selbst die im Keller gelagerten Kartoffeln und Kohlen mussten in Kilogramm angegeben werden.
Helene May hat sämtliche Kategorien mit Tintenstift durchgestrichen. Ist der Strich wütend, müde oder einfach resigniert? Verängstigt ganz ohne Zweifel. Helene May besitzt nichts mehr. Es ist das letzte, am 24 . August 1942 von ihrer Hand geschriebene Dokument, wenige Tage vor ihrer Deportation. Doch das Wort Deportation findet sich nie in den Unterlagen. Statt dessen Euphemismen: Helene Sara May ist «evakuiert», «abgeschoben» worden, oder sie ist «ausgewandert». Die zittrige Unterschrift unterhalb des Formulars, ein wenig verschwommen, weil das Papier die Tinte nicht gut absorbiert hat, ist das letzte Lebenszeichen und die letzte bürgerliche Handlung der Helene May. Danach ist sie nur noch eine Nummer: «Kennort Berlin A 500 573 ».
Es war mir nicht wohl dabei, 71 Jahre später diesen Fragebogen zu lesen, der diese Frau, die einmal meine Nachbarin aus der Nummer 25 gewesen ist, auf ein Bündel von im bürokratischen Wahn erstarrten Informationen reduziert. Sechzehn Seiten für ein ganzes Leben. Darum war ich fast erleichtert, als die Archivarin mir mitteilte, dass die Akte ihrer Tochter Charlotte «Schimmelbefall aufweist und daher nicht vorgelegt werden kann». Sie wurde augenblicklich in einer Kiste versiegelt und in eine Restaurierwerkstatt geschickt. «Was Monate dauern könnte», wie mich ein gesprächiger Lagerverwalter informiert, den ich vor der Kaffeemaschine
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