Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
tüdelig … Upps, die da ist letzten Monat gestorben.» Flugs zieht sie die überflüssig gewordene Karte heraus. Schwester Sylvia sammelt gewaltige Naturphänomene wie andere Briefmarken. Sie wirft mit verblüffenden Lebensaltern nur so um sich: 95 Jahre! 97 Jahre! Ihre Trophäen sind die Hundertjährigen. Sie hat eine ganze Handvoll in petto. Aber Schwester Sylvia wahrt stets die Anonymität ihrer alten Patientinnen. Sie kontaktiert sie selbst und stellt ihnen die Fragen ganz behutsam. Ich höre, wie sie am Telefon die Stimme hebt: «Jawohl, eine Französin in Berlin. Sie möchte wissen, wie es damals war! Ja, DAMALS … WIE ES WAR .» Und wenn die Gefragten einverstanden sind, rückt sie ihre Telefonnummern heraus. Frau Rath ist sofort einverstanden. Wir verabreden uns.
Ich warte eine ganze Weile mit meinem Blumenstrauß in der Hand vor ihrer Tür. Der Florist hat mir empfohlen, lebhafte, fast zu grelle Farben zu wählen. «In diesem Alter rate ich von Hellrosa und Weiß ab. Sie sieht bestimmt nicht mehr sehr viel!» Eine große, stattliche, 1913 geborene Frau öffnet mir. Sofort fällt mir ihre kaum zerknitterte Haut auf. Ich mache ihr ein Kompliment. «Freiöl, Wasser, Seife. Keine Creme. Gar nichts!», erklärt sie, stolz, nie zu Schminke, Wangenrot, Lidschatten gegriffen zu haben, zu all diesen dekadenten Kunstgriffen, die in ihren Augen – wie ich wenigstens annehme – Zeichen einer zweifelhaften Tugend sind. Ihre einzige Koketterie: feine goldene Kreolen an den Ohren und ein blasslila Schimmer in den unter einem dünnen Haarnetz gebändigten Haaren. «Ich habe wunderschöne Haare gehabt. Kastanienbraun und dick. Haare und Füße, das muss in Ordnung sein.» Und dann entschuldigt sie sich. Weil ihr Bein seit einigen Tagen angeschwollen ist, trägt sie weder Strümpfe noch Schuhe, sondern Plastikclogs mit großen violetten Blumen. In ihren grotesken Schuhen wirkt sie wie Minnie Mouse. «Ich hätte nicht gedacht, dass ich so alt werde. Stellen Sie sich mal vor: zwei Kriege! Die Inflation! Die Massenarbeitslosigkeit! Und dann diese düsteren Nachkriegszeiten … Man denkt, es ist alles aussichtslos, aber es geht doch!» Heute hat Frau Rath keine Angst mehr vor dem Unkontrollierbaren. Sie trägt die Sicherheit an einem Band um den Hals. Einen Senioren-Alarm.
Frau Rath wird 1943 in die Wohnung im zweiten Stock der Nummer 25 eingewiesen. Das Gebäude, das sie zuvor in einer Nachbarstraße bewohnte, ist ausgebombt worden. Frau Rath und ihre beiden Kinder stehen auf der Straße. Sie müssen so schnell wie möglich untergebracht werden. «Da haben wir zwischen qualmenden Häusern gesessen, bis man uns diese Wohnung gegeben hat. Sie ist eben gerade frei geworden. Man hat sich gar nicht getraut, da reinzugehen in das Haus, da war alles aus Marmor. Der große Spiegel über dem Kamin in der Eingangshalle. Der wurde nach dem Krieg abmontiert. Der Teppich aus rotem Velours im Flur. Die waren alle reich hier. Die hatten sogar einen Portier!» In der Sprache der Fluggesellschaften würde man heute sagen, Frau Rath sei
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worden.
Sie hat gerade mal Zeit, ihre Koffer abzustellen, dann wird sie mit ihren Kindern aufs Land evakuiert. Als der Krieg vorbei ist, kehrt sie nach Berlin zurück. Aber sie kennt ihre Nachbarn nicht. «Wer damals hier gewohnt hatte, war nicht mehr da. In den meisten Wohnungen lebten Flüchtlinge, Leute von anderswo, oft mehrere Familien in einer Wohnung. Viele wurden zwangseingewiesen.» Frau Rath fragt sich, ob sie die einzige Überlebende der Straße sei. «Wir haben angefangen, alle Fenster mit Pappe zuzustopfen. Wir haben an unseren Schlafzimmermöbeln das Angebrannte abgekratzt. Ach nee … Das kann man sich nicht vorstellen. Gar nicht. Man musste durch, und es ging. Wir waren erleichtert, endlich zu Hause zu sein.»
«Zu Hause …» Frau Rath ist ein wenig verlegen über den Ausdruck, den sie gewählt hat. Sie korrigiert sich: «Zu Hause, wenn man das so sagen kann.» Als sie zum ersten Mal die Küche dieser Fremden betritt, war der Abendbrottisch nicht abgeräumt. Frau Rath erzählt von den übriggebliebenen Brotkrumen auf dem Tischtuch, von dem in den Tassen erkalteten Kaffee. Die Stühle waren in aller Eile zurückgeschoben worden. Alles wies auf einen überstürzten Weggang. Auf dem Kupferschild an der Wohnungstür ein Name: MAY . Das ist die einzige Information, die Frau Rath besitzt. Ein einfacher Name ohne Gesicht und ohne Geschichte. Die Mays sind gegangen,
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