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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Papierkörben, in ihren Plastiksäcken schwitzenden Hundehaufen, seinen ramponierten Bänken, seinen Graffiti, Liebespärchen, zwielichtigen Pennern und einsamen Joggern typisch berlinerischen Parks führt. Ich ging über Laub und die letzten Schneekrusten, durch Birken und Dornengestrüpp, wo der Boden locker ist und die Absätze sich leicht eindrücken. Manchmal meinte ich, unter meinen Füßen die Kante eines Ziegelsteins zu spüren, und drohte über eine Backsteinscherbe zu stolpern. Sind sie eines Tages bei starkem Regen wieder an die Oberfläche gekommen? Ich ging über die Ruinen meiner hier unter dem Moos vergrabenen Straße. Wenige Meter unter meinen Füßen die Traumscherben der Bauherren Max Moniac und Richard Barth. Ihre Backsteine, ihre Ziegel, ihr Mörtel, die Fliesen ihrer
Entrés
, die Keramikfliesen ihrer Badezimmer und der Terrazzo ihrer Küchen knirschten unter meinen Sohlen. Hier, im Leib des Berges, ruhten die Karyatiden und Putten der Fassaden. Ich hörte sie stöhnen.
    Der Schadensplan des Bezirks Schöneberg von Groß-Berlin stellt im Oktober 1947 das Schadensinventar auf: Von den 30  Gebäuden meiner Straße sind nur acht mit « 0 – 15 % leichte Schäden» und somit als «bewohnbar» taxiert, drei mit « 16 – 50 % mittlere Schäden» und also als «vielleicht wiederherstellbar», neunzehn mit « 51 – 100 % schwere Schäden» oder «total beschädigt», bei denen der «Abbruch empfehlenswert» ist. Aber erst als ich im Archiv zur Geschichte von Tempelhof und Schöneberg zum ersten Mal den Leitz-Ordner öffnete, in dem die wenigen nach dem Krieg von meiner Straße aufgenommenen Fotos eingeordnet sind, ist mir das wahre Ausmaß der Katastrophe deutlich geworden.
    Die Bilder sind von einer unerhörten Brutalität. Das ist keine Straße mehr, das ist eine Landschaft außerhalb dieser Welt, mit Trümmerbergen, aus denen wacklige Gerippe einzelner Häuser ragen. Mauerkanten stehen frei in der Luft. Von der Nummer  28 haben einzig zwei Fensterrahmen überlebt. Durch ein Wunder der Statik wirft ein intakter Kamin seinen schmalen Schatten auf die Trümmer des Hauses vor seinen Füßen. Da und dort zeugen auf einem Gebäudeabschnitt ohne Fassade eine Blümchentapete, ein Ofenrohr, ein zerbrochenes Waschbecken, der Rest eines Kachelofens von einer innerhalb von Sekunden vernichteten häuslichen Normalität. An den Fassaden Einschuss- und Brandlöcher. An den Mauern der Nummer  2 hat der abgelöste Putz dunkelgraue Wunden hinterlassen. Auf dem Gehsteig vor den Nummern  21 und 22 liegt ein Eisenknäuel. Vor der nicht mehr vorhandenen Nummer  30 steht noch die Litfaßsäule. Auf den Ruinen wachsen struppige Grasbüschel und Sträucher. Wie viele Leichen liegen noch darunter begraben? Inmitten dieses mineralischen Gerölls ein paar wacklige Gestalten. Ein Mann auf dem Fahrrad. Er trägt einen Anzug und einen Hut. Eine Frau betritt mit einer Obstkiste ein ausgeschlachtetes Haus. Vor einer Fassade ein sich umschlingendes Pärchen, das den Kopf hebt, mit dem Finger zeigt. Ich habe Mühe, diese Teile von zerfetzten Gebäuden zu identifizieren. Ich versuche sie Stück um Stück zusammenzusetzen, um meine Straße wiederherzustellen.
    Die «stehende Ruine», wie man diese Häusergerippe nennt, ist kein starrer Haufen, sondern ein riesiger, lebender Körper, der auf seine Art am täglichen Leben meiner Straße teilnimmt. Ab und zu spuckt er ein noch brauchbares Objekt aus, eine wahre Kostbarkeit: eine Gabel, eine kaum angeschlagene Tasse. Gerd Böttcher, Inhaber des Abbruch- und Enttrümmerungsunternehmens, das für die Reinigung der Straße verantwortlich ist, mahnt seine Arbeiter: «Gegenstände sind ihren Eigentümern zu übergeben und, soweit diese nicht feststellbar sind, als Fundsachen zu behandeln und dem zuständigen Polizeirevier zu melden.» Wenn die Arbeiter Blindgänger, Munition oder Waffen finden, sind sie aufgefordert, die Arbeit sofort einzustellen, die Gefahrenstelle abzusperren und das nächste Polizeirevier zu benachrichtigen.
    Die Ruinen der Grundstücke  8 , 10 und 22 sind nicht eingezäunt. Bis Anfang der sechziger Jahre dienten sie als wilde Deponie für Haushaltsabfälle und als Abkürzung, um von einer Straße zur nächsten zu gelangen, «sodass sich mehrere deutlich erkennbare Pfade über diese Grundstücke ziehen», wie eine interne Notiz des Baupolizeiamts Schöneberg vermerkt. Die Kinder balancieren auf den über dem Schutt hängenden Eisenträgern. Bis in die vierte Etage

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