Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Erscheinung, die Haare lang und glatt, leicht fettig und durch einen Mittelscheitel getrennt. Zwei symmetrische Vorhänge, die zu beiden Seiten eines bleichen Gesichts herabfallen. Sie sitzen im Halbkreis, den Rücken gekrümmt, die Augen auf den Boden geheftet, hinter einem dichten Nebel von Zigarettenqualm in ihre Sessel gefläzt. Auf einem niedrigen Tisch Bierflaschen, ein überquellender Aschenbecher. «Das ist unser Problem – wir möchten ehrlich bleiben», konstatiert einer von ihnen mit monotoner Stimme. Tugendhaft erhebt er sich gegen die Industrie des Showbusiness: «Es ist so verdammt leicht, auf den musikalischen Strich geschickt zu werden. Die ganze Musikbranche ist ja ein Zuhältergewerbe. Wenn du dich prostituieren lässt, okay, dann ist das dein Bier.»
Weit davon, Freude, Stolz oder gar einen Funken Begeisterung auszulösen, scheint dieser durchschlagende Erfolg die Gruppe in eine tiefe Gewissenskrise gestürzt zu haben. «Wir wollen kein Superstargehabe!», rechtfertigt sich der eine. «Wir probieren, die Spontaneität zu wahren!», schwört der andere. Ihre Anlage hat eine halbe Million gekostet? «Wir sind teuer, aber es hat seine Berechtigung! Das heißt noch lange nicht, dass wir unbedingt elitär und etwas ganz Besonderes sein wollen!» Der Eine, der besonders finster dreinblickt, murmelt vor sich hin: «Was willst du eigentlich?» Er ist offensichtlich ganz und gar beherrscht von dieser verkrampften Betrachtung der eigenen Psyche. Er versuche, «bewusst zu leben», sagt er. Und dass der Mensch auf der Suche nach seiner «Verwirklichung» sei. Da sind sie wieder, all diese Wörter, mit denen sich die Deutschen in den siebziger und achtziger Jahren quälten. Ich verstehe nicht viel von dem, was da gesprochen wird, ich verstehe nur, dass das Leben eine Anhäufung unlösbarer Probleme ist. Dieses unentwegte Sinnieren über das menschliche Schicksal scheint ihnen wahre Pein zu bereiten. Sie gleichen diesen deutschen Jugendlichen in meiner Heimatstadt, die auf ihren Schulausflügen in kleinen kompakten Gruppen den Vorplatz des Straßburger Münsters überschwemmten. Ernst, ungewaschen, protestlerisch und kein bisschen sexy.
Ich muss gestehen, dass ich nicht die Kraft hatte, mir das Video bis zum Schluss anzusehen. Dabei nahm ich mehrere Anläufe. Ich war so enttäuscht. Den Göttern meiner Jugend fehlt es an Pepp. Jeder Satz scheint einer geistigen Anstrengung abgerungen zu sein. Nie ein Lächeln. Keine Regung der Begeisterung in der Stimme. Ich habe Lust, sie zu schütteln. Ihnen zuzurufen: «Hallo, das Leben ist schön! Freut euch! Ihr seid Stars! Sämtliche Mädchen liegen euch zu Füßen!»
Nur die einzige Frau, jung, dunkelhaarig, hübsch, allein unter Männern, gestattet sich ein kleines Glucksen, das beinahe einem Lachen gleicht. Und schnell wieder erstickt wird. Tangerine Dream, bierernste Weltverbesserer? Ich muss zugeben, dass ich ein wenig bedaure, nicht die Monty Pythons als Nachbarn zu haben …
Aber Jugendträume sind nun mal unverwüstlich, und so versuchte ich an die E-Mail-Adresse von Edgar Froese, dem Gründer der Band, heranzukommen. Ich nahm mein Herz in beide Hände und schrieb ihm. Edgar Froese lebt zwischen L.A. und Wien. Er hat über 120 Alben produziert, mit Salvador Dalí und Andy Warhol verkehrt. Er hat 64 Soundtracks für Filme in den USA und Europa komponiert, darunter drei mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Tangerine Dream war als Vorgruppe von Jimi Hendrix aufgetreten. Sie wurde sieben Mal für den Grammy nominiert, spielte im Tiergarten, im Warschauer Eisstadion, im Bois de Boulogne, im Palais du Sport in Paris und in der Royal Albert Hall in London. Tangerine Dream füllte in den Vereinigten Staaten regelmäßig die Säle und spielte 1980 als erste westliche Band im Ostberliner Palast der Republik … In den siebziger Jahren nahmen Edgar Froese und seine Musiker sogar an zwei volksversöhnenden Missionen teil. Sie gaben Konzerte in den Kathedralen von Reims und Coventry. Was einen alten Engländer, vermutlich ein Veteran der Royal Air Force, zu der Bemerkung veranlasste: «They came to bomb the place. Today they come with synthesizers.» (Früher kamen sie, um Bomben abzuwerfen, heute kommen sie mit Synthesizern.)
Edgar Froese weilte inzwischen in anderen kosmischen Gefilden. Hatte er überhaupt noch Lust, sich an diese kleine, belanglose Straße seiner Anfänge zurückzuerinnern? Er ließ mich nicht lange zappeln. Wenige Tage nach meiner E-Mail
Weitere Kostenlose Bücher