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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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was ich als Geschäftsleiter eines jüdischen Betriebs in den Jahren von 1933 – 1938 durchmachen musste, kann nur derjenige ermessen, welcher es am eigenen Leibe erfahren hat. Die ca. 15  Arbeiter des Geschäfts schikanierten mich, wo sie konnten, und bezeichneten mich hinter meinem Rücken als Judenknecht …» (Ernst Siemann, 14 . Juni 1952 )
     
    1956 emigriert Harry nach New York, wohin ihm seine zukünftige Frau Rita, eine Schwesternhelferin im Jüdischen Krankenhaus Berlin, zwei Jahre zuvor vorangegangen ist. Die Entscheidung ihres Sohnes ist für Lilli Ernsthaft ein immenser Kummer. Amerika hat ihr den Sohn «abspenstig gemacht». Er wird nicht mehr in die Nummer  3 zum Mittagessen kommen. Er, der im neugegründeten Amerikahaus vor Hunderten von Zuhörern sehr beliebte musikalische Vorträge hält und eben zum Leiter der E-Musik beim Radiosender Rias ernannt worden ist … Da mag sie sich noch so zu trösten versuchen, indem sie die Erfolge ihres Sohnes in New York aufbauscht, seine Stellung als Buchverkäufer des renommierten Unternehmens Doubleday. Sie mag sich noch so darüber freuen, dass er die Karriereleiter hinaufsteigt und ein Büro benutzt, das einige Jahre später das der Jacqueline Kennedy sein wird. Sie mag es noch so genießen, wenn sie in New York ihre Schulfreundin Ruth Mittler sieht, «die in der vornehmsten Straße New Yorks, der Park Avenue, eine elegante Wohnung hatte und fünf andere Mädels aus unserer Klasse – nach fast vierzigjähriger Trennung und all dem, was wir durchgemacht hatten – zu einer bewegenden Wiedersehensfeier zu sich einlud». Dabei ist auch Else Meyer, ihre Nachbarin aus der Nummer  28 , die als Bedienung in einem Restaurant arbeitet, sie, die in Berlin in Samt und Seide ging. Wenn sie danach ganz allein in ihrer großen Berliner Wohnung sitzt, ist Lilli Ernsthaft untröstlich. Ihr Sohn fehlt ihr. Aber ihm nachzugehen, das wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
    Harry stirbt am 28 . April 1978 mit 53  Jahren in New York an Leukämie. Seine Mutter ist überzeugt, dass er sich den Tod in dem feuchten Keller geholt hat, in dem er sich verstecken musste. Die Trauerfeier findet in Forest Hills statt. Lilli bringt die Asche ihres Sohnes nach Berlin. Im Flugzeug presst diese ganz kleine Frau, aufrecht auf ihrem Sitz, vom Schmerz überwältigt, während der ganzen Reise ihre Handtasche mit der Urne ihres Sohnes an den Bauch. Harrys Asche wird im Familiengrab auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt. Während der Jahre der deutschen Teilung holt Sonya Rönnfeldt, die Tochter des einstigen Kinderfräuleins der Ernsthafts, Grete,
Tante Lilli
vor der Grenze mit ihrem Trabant ab, um sie nach Weißensee zu bringen. In der Nacht des Mauerfalls, als sich für die DDR -Bürger die Grenzen öffnen, stürzt sich Sonya in die Nummer  3 .
Tante Lilli
ist ihre einzige Bekanntschaft
drüben
. Am 10 . November 1989 spazieren die beiden Frauen gemeinsam über den Kurfürstendamm. Und als
Tante Lilli
ihr Bett am Ende ihres Lebens nicht mehr verlassen kann, kommt Sonya einmal pro Woche zu ihr, um sie zu baden.
     
    Als ich Lilli Ernsthaft Mitte der neunziger Jahre besuchte, fragte ich mich, wie es kam, dass ihr Haus noch immer stand. Die Nummer  3 ist in diesem Straßenabschnitt das einzige Gebäude aus der Anfangszeit. Eine Überlebende, genau wie ihre Bewohnerin. «Die Nummer  3 ist einfach stehen geblieben», wundern wir beiden Nachbarinnen uns. «Ein Solitär», sagte Lilli Ernsthaft. Ich wagte ihr nicht zu widersprechen, aber von einem strahlenden Diamanten hatte die Nummer  3 nun wirklich nichts. Mit ihrer schwarzen, porösen Fassade glich sie eher einem Bimsstein. Der alte Fahrstuhl voller Dreck und Spinnweben war im Vorkriegszustand erstarrt.
    Lilli Ernsthaft hat sich oft darüber beklagt. Ihr Haus sei das «schäbigste» der ganzen Straße. Eine Schande! Wenn man bedenkt, was es vor dem Krieg gewesen war! Ein nobles Haus! «Seit Jahren wurden uns Treppenläufer versprochen», schreibt sie dem Eigentümer 1958 empört, «stattdessen lassen Sie es zu, dass die sehr rührige Frau Bandekow uns Fetzen ehemaliger uralter Läuferreste, die sie in anderen Häusern erbettelt hat, vor die Treppenaufgänge legt. Die neuen Lampen und der Kasten des Stillen Portiers passen vielleicht in Häuser des Berliner Nordens oder auf die hinteren Aufgänge, nicht aber zu den Überresten eines einstmals gepflegten und wunderschönen Hauses, nämlich zu dem noch vorhandenen schönen

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