Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Eckhauses 7 B in die Zweieinhalbzimmerwohnung im Neubau seiner Schwiegereltern eingezogen. Seine Frau war schwanger. Er war hierhergekommen, um «rückwärts» zu leben: «Da ich selbst an der Peripherie Berlins, im Rudower ländlichen Bereich aufgewachsen bin, zog es mich weder nach Schöneberg noch in diese Straße. 1970 , als mental-soziales Kind der 68 er-Bewegung, war mir die meist von Beamten bewohnte Straße ein Gräuel. Alle Vorurteile über spießige und konservative Verhaltensstrukturen schienen dort geboren und über viele Jahre kultiviert worden zu sein.»
Und so zog er über meine Straße her, mokierte sich über ihren Mief, ihre Enge. Nein, hier war der Wind der großen weiten Welt nicht zu spüren. Nein, hier fanden Freaks, Wehrdienstverweigerer, Dekadente und
Outcasts
aller Art, ewige Studenten, Denker, Kiffer, Künstler, Revoluzzer, Frauen- und Linksbewegte, Schwule und Lesben, mit ihren spießigen, konservativen Familien in den westdeutschen Provinzstädten verkrachte Töchter und Söhne keinen Zufluchtsort, um eine fragile Freiheit auszuleben. Meine Straße war eine kleinbürgerliche Enklave in diesem schrillen Westberlin. Edgar Froese, ihr Paradiesvogel, machte mit einem Schlag alle meine Illusionen zunichte:
«Die Bewegung in den Jahren 1968 / 69 fand nicht in unserer Straße statt. Die hatte mit der dort lebenden Bevölkerungsstruktur keinen Anteil an der sich entwickelnden Bewusstseinsveränderung in Berlin und den Metropolen der Welt. Die Bewohner dieser Straße in den Siebzigern bestand aus beamteten Menschen, die mit einem Schrebergartengemüt von einer abgesicherten Zukunft träumten. Die Jungen, die dort aufwuchsen, warteten auf das Alter ihrer Unabhängigkeit und gingen.»
Meine Straße war in zwei Lager gespalten. Die Nummer 7 skandierte, allein gegen alle, Ho-Ho-Ho-Chi-Minh, überall sonst kämpften die Kleinbürger um die Respektierung der Hausordnung. Meine Straße ging völlig an den «Mai-Ereignissen» und später dem Deutschen Herbst vorbei, die das ganze Land in Atem hielten. Edgar Froese machte sich bei der erstbesten Gelegenheit auf und davon. «Als 1980 die ersten Filmmusikangebote aus den USA auf dem Tisch lagen, haben wir an fast allen Orten der Welt gearbeitet und gelebt. Einen Heimatverlust, nicht in Berlin zu sein, haben wir nie gespürt.» Er schrieb mir auch, er besitze «den geistigen Reisepass eines Weltbürgers».
Eines Sonntagabends erzählte ich Edgar Froese, nachdem ich den ganzen Nachmittag durch meine Straße geschlendert war, von meiner Entdeckung: das Spiegel-Labyrinth im Entree der Nummer 7 . Wenn man sich genau in die Achse zwischen den zwei Spiegeln zu beiden Seiten der Wand stellt, multipliziert sich sein eigenes Bild so ins Unendliche, dass einem schwindelig wird. «Passt perfekt zu Ihrer Musik!», schrieb ich. Die Antwort kam am selben Abend. Ich spürte, dass Edgar Froese beim Aushecken seinen Spaß hatte. Mich traf beinahe der Schlag:
«Jener Spiegel ist nicht interessant, weil er da hängt, sondern weil David Bowie, Brian Eno, Iggy Pop, George Moorse, Friedrich Gulda und viele andere Zeitgenossen dort hineingeschaut haben, um festzustellen, dass der Zeitzahn wieder faltentief an ihnen gearbeitet hat. Dann stiegen diese Exemplare einer zeitlosen Epoche in die zweite Etage und bekamen von uns eine warme Mahlzeit. Gastfreundschaft unter Gleichgesinnten.»
David Bowie in der Nummer 7 ! Es verschlug mir den Atem. Meine Straße verwandelte sich vor meinen Augen in einen Treffpunkt von Weltstars und Punkrockern. Nach meinem bisherigen Wissensstand hatte in meiner Straße keine Berühmtheit ihr Domizil aufgeschlagen. Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich mit seiner Orgasmusforschung und der Operettenkomponist Walter Kollo mit seinen Evergreens waren ihre einzigen namhaften Trophäen. Während der eine – an dem einen Ende der Straße – die Gipfel der Sinnenlust erkundete, komponierte der Zweite – an ihrem anderen Ende – die Hymne unseres Viertels:
Es war in Schöneberg im Monat Mai.
Dabei ist das Bayerische Viertel ein wahrer Tummelplatz von Koryphäen. Ich war stets etwas neidisch auf meine Nachbarstraßen. Ich bin außerdem sicher, dass sie auf meine Straße herabsehen. Sich über sie lustig machen: Bei mir hat Gottfried Benn gelebt! Bei mir Gisèle Freund! Billy Wilder! Erich Fromm! Alfred Kerr! Albert Einstein! Und all die anderen … Einzig meine Straße war unfähig, ihre Fassaden mit Ehrentafeln zum Gedächtnis großer
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