Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Renovierung nicht mehr erleben. Sie stirbt vorher. 2009 verschwindet die Fassade der Nummer 3 unter einer grünen, über ein Gerüst gespannten Plane. Mehrere Wochen lang igelt sich das Haus ein, isoliert sich von der übrigen Straße. Geht in Quarantäne. Die Nummer 3 streift ihre alte Haut ab. Der Enkel, ein Nachkriegsdeutscher, entschied sich für eine «anspruchsvolle Fassade, nicht einfach glätten und Farbe drauf». Im Stil von 1904 zu renovieren, war allerdings kein Thema: «Die alte Fassade war mir zu trutzig, zu klobig, wilhelminisch schwer. Diese angedeuteten Säulen waren mir zu pompös, zu demonstrativ. Da hat sich das große, starke, unbesiegbare Deutschland dargestellt. Nein, nein, ich wollte …», und er hebt die Arme begeistert in die Luft wie ein großer Vogel die Flügel, wenn er zum Abflug ansetzt, «… etwas Leichtes, Verspieltes, mit sehr vielen ganz klaren Jugendstil-Anklängen darin. Manche Stuckleisten sind industriell aus Styropor vorgefertigt, aber alle floralen Elemente hat ein polnischer Stuckateur mit der freien Hand aus Mörtel gemacht. Optisch sind sie nicht zu unterscheiden. Wenn ein Passant heute vorbeigeht, könnte er glauben, das sei die originale Fassade. «Er hat», sagt er, «eine Historisierung nach reiner Phantasie» angestrebt, «nicht nach historischem Vorbild.»
Endlich der Ruhm
Wer hätte gedacht, dass das Schicksal eines Tages einen Faden von der Straße meines Berliner Exils bis zu dem kleinen
Chambre de bonne
unter dem Dach spannen würde, in der ich als Jugendliche, ganz der kontemplativen Schwerelosigkeit hingegeben, stundenlang auf meinem Bett dieselbe Vinylscheibe anhörte? Das Cover, an das ich mich erinnere, auch wenn ich nicht mehr weiß, was aus der Platte geworden ist, zeigte einen Wassertropfen, der mitten in eine ölige blaue Pfütze fällt. Damals wusste ich nicht, dass die elektronischen Ströme, die über diesen Nachmittagen schwebten, bereits dabei waren, mich in Richtung der Straße meines Erwachsenenlebens zu lenken.
Kürzlich surfte ich einen ganzen Abend lang ziellos im Internet. Als ich – aus lauter Neugier – nach dem Namen meiner Straße googelte, stieß ich auf einen französischsprachigen Blog, in dem empfohlen wurde, «hierherzupilgern» auf den Spuren einer elektronischen Gruppe, die einige Jahre in einer ehemaligen Bäckerei in der Nummer 7 B ihre Studios eingerichtet hatte. Dass, wie der Blogger informiert, «die ersten Strahlen der kosmischen Musik» diesem nichtssagenden Block entsprungen sein sollen, konnte nur eine Ente sein.
Doch als ich weitersurfte, entdeckte ich, dass es sich um Tangerine Dream handelte. Ich dachte immer, das sei, wie Pink Floyd, eine englische Band. Und hatte nie versucht, mehr über die Identität dieser fast reglos an ihre riesigen Synthesizer gehefteten Silhouetten zu erfahren. Zusammen mit Frédérik alias Reinhard Mey ist Tangerine Dream meines Wissens das einzige deutsche musikalische Exportprodukt, das damals in Frankreich populär war.
Tangerine Dream bewohnte gemeinsam mit Jacques Brel, Maurice Béjart, Boris Vian, Monty Python, Greta Garbo und John F. Kennedy den Olymp meiner Jugend. Eine bunte Mischung an Göttern, die, wie mir im Nachhinein bewusst wurde, ideologisch völlig inkompatibel sind. So viele Jahre später zu entdecken, dass einer von ihnen in meiner Straße gewohnt hat, kam einer Offenbarung gleich. Also begab ich mich auf die Suche nach ihm.
Auf YouTube fand ich ein Video. Die Kamera vollzog einen Schwenk von einer Minute und 25 Sekunden durch meine Straße im November 1974 . Nebelgrau, stumm, düster, ihre schwarzen Fassaden, als wären sie aus einem Steinkohleblock gehauen. An den Mauern klebt noch die Tristesse der Nachkriegszeit. Sie gleicht Ostberlin vor dem Mauerfall. Ich stelle mir den Geruch ihrer Kohleöfen vor, das fahle Licht ihrer Laternen bei einbrechender Dunkelheit. Am Gehsteigrand stehen nur wenige Autos, die aussehen wie Sammlerstücke. Die Kastanienbäume sind noch nicht gepflanzt. Die Straße mündet in die große Durchfahrtsstraße. Der Sozialwohnungsblock, der heute den Weg zu ihr versperrt, fehlt.
«Tangerine Dream, zurzeit
das
Aushängeschild der deutschen Rockmusik im Ausland», sagt eine Off-Stimme. «Die Schallplatten vom Orangenen Traum verkaufen sich seit zwei Jahren nach Millionen. In England stieg die Werbung für die Berliner Gruppe mit dem Slogan
Tangerine Dream regiert
ein!»
Dann tritt eine Bruderschaft junger bärtiger Männer in
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