Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
flimmerten tiefgründige soziologische Betrachtungen über meinen Bildschirm: « 1970 im Haus 7 B und 1976 im Haus 7 eingezogen zu sein, bedeutet umständehalber, äußerst detaillierte Kenntnisse über soziale und kulturelle Entwicklungen zu besitzen. Ob Sie Ihre Recherchen sowohl im Mikro- als auch im Makro-Lebensbereich anlegen werden, ist mir natürlich nicht bekannt. In jedem Fall dürften Sie sicher schon einiges über dieses ‹zentrale Auge› im Mittelpunkt des Schöneberger Bürgertums mit kreativen Schlagschatten gesammelt haben.»
Edgar Froese war bereit, mich zu treffen. Ich war im siebten Himmel, aber auch etwas eingeschüchtert. Ich versuchte mir unser «Wiedersehen» auszumalen: wie mein Herz aussetzt, wenn ich ihm die Hand reiche, unser Glas Wein beim Italiener am Ende der Straße, die gemeinsame Besichtigung der Nummer 7 .
Er war 1976 in eine Altbauwohnung des angrenzenden Gebäudes, der Nummer 7 , umgezogen und hatte sein «administratives wie studiotechnisches Hauptquartier» im Erdgeschoss eingerichtet, wo sich in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Bar namens «Tam Tam» befunden hatte, in der, wie Edgar Froese erzählt, die damalige Berliner Künstlerelite ein und aus ging. Eine Adresse für jene, die um vier Uhr morgens noch mal absacken wollten.
Ich war in heller Aufregung. Zuvor aber musste Edgar Froese noch in New York einen Soundtrack aufnehmen. Das werde nur ein paar Wochen dauern. Danach würden wir uns sehen. Er quälte mich. «Wir werden uns treffen, wo?» Wir waren keinen Schritt weiter, kein Ort und kein Termin standen fest. Und er unterzeichnete mit 007 ***.
Doch ich warte. So schnell gibt ein treues Groupie nicht auf.
Ich wartete mehrere Monate. Weihnachten kam eine elektronische Glückwunschkarte: «Merry Xmas & Happy Holiday and a prosperous New Year! Warmest regards from Tangerine Dream.» Die Musiker von Tangerine Dream sangen mit bunten Perücken auf dem Kopf ein Hardrock-Weihnachtslied.
Das Warten ging weiter. Ich war bereit, ins nächste Flugzeug nach Wien oder New York zu steigen oder auch nur die paar Schritte zurückzulegen, die mich von der Nummer 7 trennten. Die Vorfreude wuchs. Bis zu dem Tag, als mir seine Frau mitteilte, dass Edgar Froese, seit ein paar Tagen zurück in Wien, auf der Straße seiner ganzen Länge nach hingefallen ist: «Kieferbruch. Große OP . Krankenhaus. Treffen leider erstmal verschoben.» Unser Gespräch würde nicht «Face-to-Face» möglich sein, schreibt sie. Es müsste per E-Mail stattfinden.
So kurz vor dem Ziel zu straucheln … Ich sah meinen Gott stumm und verunstaltet vor mir, einen großen Verband um den blauen geschwollenen Kiefer geknüpft. Ohnmächtig sah ich ihn abdriften, außer Reichweite entschwinden. Wenn ich an der Nummer 7 vorbeiging, wurde mir ganz traurig ums Herz.
Edgar Froese nannte dieses fast zeitgleiche Hin und Her der Mails, die wir nun wechseln sollten, «Binärcodieren». Ich schickte eine lange Liste mit Fragen. «Hat diese Straße in Ihrem Leben eine besondere Wichtigkeit gehabt?» Die Antwort überflutete einige Tage später meinen Bildschirm. Edgar Froese hatte mir zum Trost im Anhang ein Foto mitgeschickt: In einer Wiener Gasse zeigt ein Mann fortgeschrittenen Alters in weißer Mähne, aber in seinem schwarzen Hemd und der weißen Leinenhose noch super cool, seiner jungen Frau mit dem Finger etwas in der Ferne. «An Straßen hängt man nicht – man verlässt sie, kommt wieder zu ihnen zurück oder geht einfach, um nicht mehr wiederzukehren. Straßen können sehr schwach ausgeprägte Markierungspunkte im Leben eines Menschen sein oder starke Eindrücke, Erinnerungen, ja Narben in der Seele hinterlassen. Es muss gesagt werden, dass eine Straße immer eine kurvenreiche oder lange Gerade ist, in der es Hunderte von Lebensmittelpunkten gibt. Schönheit, Hässlichkeit, Tragik und Drama sind oft Wand an Wand gebaut. Straßen sind Reißbrettentwürfe einer Planungselite, belebt werden sie von Menschen mit völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen und Bewusstseinszuständen. Straßen waren vor Zeiten einmal unbewohntes Ackerland und werden es in fernen Zeiten wieder sein. Alles ist zyklisch. In meiner Erinnerung kenne ich jeden Bordstein in der Straße, die über 30 Jahre lang mein Rückkehrpunkt war, und doch habe ich außerhalb dieser Wahrnehmung keine besondere Beziehungsfähigkeit.»
Aber dann wurde er auf einmal ganz konkret. Er war am 1 . Juli 1970 in den zweiten Stock des
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