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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Termin vorgestern, ein Unmöglich gibt es nicht, und sage uns bloß nicht, du wärst nicht der Mann dafür, wir haben sowieso keinen anderen. Und dann kriegt einer nicht gleich Land unter die Füße und schwimmt immer gerade noch so mit letzter Luft, und wenn er schon mal Boden hat, kommt gleich wieder eine Welle, dabei soll der Mann eigentlich leiten, und das hockt ihm wie ein Zentnersack im Genick. Was tun, wenn man keine Übersicht hat? Das ist, wie wenn einer drei Meter vor ’nem Kirchturm steht: da kann er natürlich oben die Uhr nicht erkennen. Wenn einer drei Kilometer entfernt steht, der ist auch nicht besser dran, der sieht zwar die |281| Kirche gerade noch, das ist aber auch alles. So dreißig Meter, das wäre ungefähr das Rechte, da sieht man das Ganze und sieht auch noch genügend Einzelheiten. Aber unser Mann, der sieht bloß noch die eine Einzelheit genau vor seiner Nase; die allerdings sieht er deutlich. Und weil er sie so deutlich sieht, läßt er sich nichts sagen von dem Dreißig-Meter-Mann, denn der weiß ja nichts von jener winzigen Ritze dort und von dem kleinen Schönheitsfleck, also kann er gar nicht mitreden, und vielleicht ist er sogar ein Revisionist, oder sonstwas für einer, Vorsicht!
    Ja, dachte Hermann Fischer, so ist das. Der Sozialismus muß gemacht werden mit den Leuten, die nun mal da sind – oder gar nicht. Aber das war immer bloß die eine Seite. Denn man konnte auch nicht so mir-nichts-dir-nichts Sozialismus machen in einem geteilten Land, einem Teil von dem Land, denn was sollte aus dem anderen Teil werden und aus dem Ganzen? Ja, dachte er, und eines Tages werden dann die Klugscheißer kommen und werden sagen: Da habt ihr’s. Ihr habt die Partei von einem Fehler in den anderen taumeln lassen, werden sie sagen, und werden sich in die Brust werfen, als hätten sie es besser gewußt, und als hätten sie auch nur einen Finger krumm gemacht, als hätten sie nicht immer nur beiseite gestanden und orakelt und mit Fingern auf uns gezeigt, und als hätten sie je einen Schritt getan, den nicht tausend andere vorher schon getan, aber nie einen neuen, einen voraus. Ja, dachte Hermann Fischer, ganz bestimmt werden sie kommen, denn die kommen immer. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
    Und ein paar Meter weiter mischten sie die Karten, steckten ihr Blatt zurecht, der kleine Heckert, der ins Mansfeldische fuhr, wo er zu Hause war, und Christian Kleinschmidt, der fuhr nach Leipzig, und Peter Loose.
    Und Peter Loose fuhr nach Berlin. Er fuhr aber in den anderen Teil der Stadt, würde aussteigen am Bahnhof Friedrichstraße und die S-Bahn nehmen bis Gesundbrunnen, |282| West-Sektor, fuhr auch nicht das erste Mal dorthin, in ein anderes Land, und blieb doch immer in Deutschland. Wenn man nämlich den Potsdamer Platz überquerte, am Abend, mitten in Berlin, wenn man in westlicher Richtung aus den finsteren Trümmerstraßen plötzlich eintrat in das Geflacker der Lichtreklamen, dann hatte man eine Grenze überschritten und war eingetreten in eine Landschaft, die fing schon wieder an, eine richtige Weltstadt zu werden. Wie sollte auch einer, den es seit je auf die Rummelplätze zog, wie sollte der sich den größten Rummelplatz der deutschen Gegenwart entgehen lassen? Fünf zu eins tauschte man sein Geld an einer Wechselstube, man hatte es ja, und kaufte sich ein Stückchen große weite Welt, kaufte sich ein Abenteuer, den Glanz der Schaufenster kaufte man und den Anblick der vielen Dinge, die man nie vorher gesehen hatte, den Autokorso auf dem Kurfürstendamm und das Kinobillett für die badende Venus, und kaufte Gerüche und Farben und Bilder, und ein paar Schuhe mit Kreppsohlen kaufte man und Zigaretten, und dann kaufte man eine S-Bahn-Karte und fuhr zurück in das andere Land. Und diesmal würde man ein Kofferradio kaufen, Marke Grundig-Boy, denn man brauchte so ein Ding. So ein Radio, das war ein Fenster zur Welt, und es gibt nun mal Leute, die brauchen ein Fenster. Christian Kleinschmidt beispielsweise, der braucht das nicht, der hatte etwas, woran er sich halten konnte. Ein richtiges Zuhause hatte er, mit einem Zimmer ganz für sich allein, und sogar mit einem Bad, und außerdem hatte er noch etwas: er wußte, wo er mit sich hinwollte. Das bißchen Schacht, das war bloß ein Zwischenspiel. Dann kam das Studium, und das eigentliche Leben fing erst an, und innen war Ruhe und Zuversicht, denn man wußte genau: So kommt es und nicht anders. Aber es gab eben andere, denen dauerte das

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