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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Fischer mochte sie nicht, sie boten nirgends einen Halt. Und bei Regen sahen sie aus wie eine alte, geflickte Sofadecke.
    Der Zug-Schaffner kam, ritzte einen Bleistiftstrich auf die Fahrkarten, und als Hermann Fischer aufstand, sah er den Schwarzseidenen im Nachbarabteil. Der Schaffner war nun drüben, ritzte seinen Bleistiftstrich, und zu dem Schwarzseidenen sagte er: »Gößnitz Sechzehnuhrzwölf.«
    |274| Das Flachland. Nebel in den Niederungen, die Wiesen dampften. Die Dörfer hatten alle einen Anstrich von Kleinstadt. Fabriken in jedem Dorf, Strumpfwirkereien, Spinnereien, Webereien, Trikotagenfabriken. Hermann Fischer kannte die Gegend, vor dreiunddreißig war er hier oft für die Partei unterwegs gewesen. Es war ein weitausgedehnter Industriebezirk, einer der größten Textilproduzenten Deutschlands, war aber immer ein Armeleutewinkel geblieben. In Crimmitschau, das wußte Fischer, war einst einer der ersten und machtvollsten Textilarbeiterstreiks des Jahrhunderts. Die da am Webstuhl saßen, die nagten am Hungertuch. Da gingen sie auf die Straße, zogen vor die Unternehmervillen, sie hatten nichts zu verlieren als ihre Ketten. Ihr grauer Elendszug wehte vor den Häusern der Reichen wie die Fahne des endgültigen Untergangs.
    Ganz hinten im Zug, im letzten Wagen, ganz hinten fuhr Nickel. Er fuhr nach Hause, das erste Mal seit langer Zeit, und er war froh, daß er einen Platz für sich allein erwischt hatte. Als er eingestiegen war, droben in Bermsthal, hatte er die Genossin Ruth Fischer auf dem Bahnsteig gesehen, sie stand mit ihrem Vater am Zug und mit dem Genossen Papst, dem ersten Kreissekretär. Unbemerkt hatte sich Nickel vorbeigedrückt. Vor dem Erster-Klasse-Waggon hatten sie gestanden, Papst und Fischer, und Nickel hatte nur eine Karte für die zweite Klasse. Er wußte, daß sie zum Parteitag fuhren, und wenn Ruth nicht dabeigewesen wäre, dann wäre er sicher zu ihnen gegangen.
    Aber so …
    Nein, er war froh, daß er diesen Platz gefunden hatte, hier störte ihn niemand. Ruth Fischer, dachte er, wirklich, so ein ganz dummes Gefühl ist das. Aber das weiß Gott sei Dank keiner, auch du weißt es nicht. Schön auslachen würdest du mich, wenn du es wüßtest. Und er dachte an sein möbliertes Zimmer in Bermsthal, die kahle Kammer, die er gemietet hatte, dachte an die langen Abende, die er gesessen hatte über |275| Broschüren und dicken Büchern, immer wieder waren ihm die Zeilen davongeschwommen, sie war oft in seinen Gedanken gewesen, Ruth. Vielleicht, wenn er einfach irgendein junger Mann wäre, vielleicht würde er hingehen und sagen, und sagen – ja, was? Aber er war eben nicht einfach so einer, er war Genosse, und obendrein war er Personalleiter, und als solcher hat man es schwer, sehr schwer. Obendrein bei einem Mädchen, dessen Vater Parteimitglied war seit dreiundzwanzig. Was sollte der denken von einem, der einfach mit seiner Tochter anbändelte?
    Hermann Fischer dachte: Gößnitz Sechzehnuhrzwölf. Er sah den Schwarzseidenen draußen auf dem Gang vorbeigehen, toilettenwärts, und er dachte: Da wird er wohl nach Gera umsteigen wollen. Das Stückchen von Zwickau bis Gößnitz, das lohnt sich ja gar nicht mit dem D-Zug, das ist doch bloß ein Katzensprung. Naja, dachte er dann, kann schon sein, daß dem die drei Mark Zuschlag gar nichts ausmachen. Das ist bestimmt ein ganz Kapitaler. Irgend so ein Strumpfprokurist, oder ein abgesägter Kommerzienrat. Oder ein ganz dicker Textilschieber, die Gegend hier wimmelt ja davon.
    Gott ja, dachte er nun, wenn es bloß nach dem Geld geht, da kann ich mir so eine D-Zug-Fahrt ja nun nachgerade auch leisten. Die Zeiten sind ja nun vorbei, wo unsereiner jeden Pfennig dreimal umdrehen mußte, herrgottnochmal. Da schuftest du wie ein Sklave, und wenn du nach Hause kommst am Zahltag, da piepst dir der Hungerlohn in der Tasche, und du weißt nicht, welches Loch du zuerst zustopfen sollst. Da ist das Gas und das Elektrische, und der Hauswirt wartet schon auf der Treppe wegen der Miete, das Mädel braucht ein paar feste Schuhe, und die Frau trägt den alten Wintermantel auch schon das achte Jahr, weiß Gott, es war immer zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Ausgepreßt haben sie uns bis aufs Mark, und das bißchen, was sie dafür bezahlt haben, auch das war noch bitter erkämpft. Ja, dachte er, und heute, heute haben die Leute das alles schon |276| vergessen. Heute geigen sie uns eins auf von der guten alten Zeit, als ob sie unterm Kaiser nicht den Kitt aus

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