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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Bewohnern. Er wußte selbst nicht genau warum. War es die Geschichte der Stadt, der Wiege der Revolution, waren es die weißen Nächte an der Newa, war es der heldenhafte Kampf während des Großen Vaterländischen Krieges oder vielleicht die Erinnerung an den Genossen Kirow, den er sich vor vielen Jahren, als Komsomolze noch, zum Vorbild genommen hatte? Oder war es der Eindruck, den Menschen und Stadt auf ihn gemacht hatten, als er zum ersten Mal in Leningrad war, 1938? Er war den Newski-Prospekt hinabgegangen, an Kaufhäusern und Restaurants vorbei im dichten Menschenstrom, zwischen der goldenen Nadel der Admiralität und dem Winterpalais hindurch und dann an der Newa entlang, flußabwärts, gegenüber den alten Palästen Rastrellis und der alten Universität; hier das Reiterstandbild Peters des Großen vor der Isaakskathedrale und dahinter Nikolaus II., von dem die Leningrader sagten: Ein Narr versucht einen Klugen einzuholen, aber der heilige Isaak hindert ihn; er war über eine der hundert Brücken gegangen, hatte lange dem Eisgang der Newa zugesehen, es war der erste warme Frühlingstag, und war dann hinausgefahren zum Smolny, um vom Tonband ein Stück aus Lenins |309| berühmter Rede zu hören und Lenins Stimme … War es die Eremitage, das alte Putilow-Werk oder vielleicht die vielen Straßen, Gassen und Promenaden, an Kanälen und Flußarmen entlang? Er wußte es nicht. Polotnikow war Moskauer. Moskau war für ihn die Heimat, und wenn er Rußland dachte, dachte er Moskau. Aber Leningrad war die schönste Stadt, die er kannte, und er hatte immer gewünscht, einmal dort zu wohnen …
    »Eine Stunde zu spät, Sergej Michailowitsch«, sagte Alla. »Der Chef ist nach Siegmar gefahren, zur Hauptverwaltung.«
    »Dann geben Sie mir den Objektgeologen«, verlangte Polotnikow.
    Aber der war ebenfalls nicht zu erreichen. Polotnikow legte auf.
    Vor sechs Tagen hatte er die Unterlagen für den Streckenanschluß an den Nachbarschacht gefordert – nichts rührte sich. Er hatte den Eindruck, daß der Objektgeologe ihn bewußt warten ließ. Aber warum nur? Weil Polotnikow sich weigerte, seitenlange Berichte zu schreiben? Es waren herrliche Zustände eingerissen. An der Front wäre so etwas nicht möglich gewesen, dachte Polotnikow erbittert. Aber jetzt schlichen sich überall die Papierkrieger ein. Der Objektgeologe sah höchstens einmal im Monat einen Schacht von innen, aber im Berichte-Sammeln und im Abfassen von meterlangen Runderlassen und Anweisungen war er groß. Einmal hatte er Polotnikows Monatsergebnis beim Bericht an die Hauptverwaltung glatt ein kleines bißchen ›aufgebessert‹ – nicht, daß er die Fakten verändert hätte, bewahre, er hatte nur so eine besondere Art der Darstellung. Und in der Hauptverwaltung hieß es dann: Bei Polotnikow ist alles in Ordnung; geben wir die neuen Geräte also erst einmal an die schlechteren Nachbarschächte. War der Objektgeologe etwa rachsüchtig?
    Polotnikow ging zum Spind, holte seine Grubenkappe. Der Sicherheitssteiger hatte Seilkontrolle angesetzt. Er stieg zum |310| Maschinenhaus hinab. Vom Treppenfenster aus sah er den Steiger Fischer über den Hof gehen. Er lächelte unwillkürlich. Der Alte war schon in Ordnung, immer Ideen, immer Pläne. Nur ein bißchen vertrauensselig war er, etwas zu gutgläubig. Sie müßten es doch eigentlich gelernt haben, die alten deutschen Kommunisten, nach allem, was hinter ihnen lag. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Fischer hatte ihm einmal gesagt: Der Genosse Drushwili, der Reviergeophysiker, der bringt mit seinem Sabotage-Geschrei nur die Leute durcheinander. Abzüge und Strafen – bei Frischlingen, die noch gar nicht begreifen, was sie eigentlich falsch gemacht haben. Das macht nur böses Blut. Polotnikow wußte noch genau: es war am sechsten August gewesen. Sie hatten vor der Wandzeitung der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft gestanden. Fischer hatte auf die Zeitungsbilder gezeigt, Aufnahmen nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima, und hatte gesagt: Das da müssen wir den Kumpels klarmachen. 280   000 Tote. Achtzigtausend in einer einzigen Minute. Und daß das uns allen blüht, wenn den Amerikanern nicht gezeigt wird, daß sie nicht ungestraft mit der Bombe spielen dürfen. Wenn die Sowjetunion im Notfall zurückschlagen kann. Wenn das jeder begriffen hat, wenn jeder weiß, wofür er hier arbeitet, dann brauchen wir keine Abzüge und keine Prämien mehr. – Polotnikow hatte damals gelächelt.
    Zuviel wenn,

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