Rummelplatz
zerknittertes Männlein von neunundzwanzig Jahren, wußte nun genau: »Das ist der niegekannte Wohlstand, den uns der Ulbricht versprochen hat!«
Dörner kam, durchgeschwitzt, ölverschmiert, rotgesichtig, sie bildeten eine Gasse. Sie sahen die Adern an seiner Stirn, und sie hofften.
Sie hofften aber umsonst. Dörner ließ sich nicht in ihre Partei aufnehmen. Er ging zu Graupner, dem Maschinenführer der Mittelschicht, pflanzte sich vor ihm auf und sagte: »Siebwechsel!«
Graupner zögerte lange, ging dann aber doch. Spöttische Blicke folgten ihnen und betretene. Graupners erster Gehilfe zündete sich eine Zigarette an, ließ seinen Maschinenführer davonziehen, zeigte seine Taschenuhr rundum und erklärte: »Was denn, es fehlen noch sechs Minuten.«
Der kleine Häring warf Seife und Handtuch in seinen Spind. »Ihr Helden«, sagte er. »Zwanzig Mann gegen ein Mädchen.« Er ging hinaus an die Maschine und begann Ausschuß zu räumen. Den Transportwagen schob er ein paar Meter zurück, daß alle ihn sehen mußten. Und als Ruth aus dem Kanal kroch, sagte er: »Mach dir nichts draus, das kann jedem passieren. Wir ziehen den Feuchtfilz ein, Graupner wechselt hinten das Sieb.«
Aber Ruth konnte nicht mehr. Häring sah es, er wußte: Wenn sie jetzt schlappmacht, wird keiner mehr ein Stück Brot von ihr nehmen. Er knurrte: »Los, koch erst mal Kaffee. In meinem Spind liegt ein Tütchen, hat mir meine Schwiegertochter geschickt, echt West. Hab ihn für die Nachtschicht aufgehoben.«
Ruth blieb bis zwei Stunden nach Schichtwechsel. Sie räumte den Ausschuß aus der Maschine, zog dann mit Häring den Feuchtfilz ein. Sie arbeitete mit letzter Kraft, biß |302| die Zähne zusammen, sie sprach mit keinem. Hinten wechselten die Männer aus beiden Schichten das Sieb. Der Werkführer kam, der Oberwerkführer, der Produktionsleiter, zum Schluß kam auch Nickel. Der Werkführer führte einen Veitstanz auf. Er sagte allen, die gerade in der Gegend waren, er habe das von Anfang an kommen sehen. Eine Schürze zum Maschinenführer ausbilden, lächerlich. Dörner drückte ihm eine Brechstange in die Hand. »Heb mal die Walze an, quatschen kannst du später.«
Und sie schafften den Siebwechsel in kürzerer Zeit als sonst bei der turnusmäßigen Sonntagsreparatur. Sie arbeiteten angespannt, konzentriert, jeder Handgriff kam zur rechten Zeit, keiner war überflüssig. Im Rhythmus der gemeinsamen Arbeit kehrten langsam auch die Gedanken zurück. Graupner gestand sich ein, daß das Sieb schon die dritte Woche lief, es hätte am kommenden Sonntag ohnehin gewechselt werden müssen. Länger als vier Wochen läuft kein Sieb, es war also annähernd amortisiert. Blieb der Produktionsausfall und der Filz. Der erste Gehilfe und der Oberwerkführer sagten sich, daß jedem von ihnen schon Ähnliches passiert war, noch dazu bei diesem Sechzig-Gramm-Papier und bei dieser Hitze. Und Jungandres überlegte: Nehmen wir die Sache als Prüfung. Wenn sie morgen wieder fit ist, dann schafft sie auch alles andere.
Als der Feuchtfilz gewechselt war, schlich Ruth sich aus der Halle. Für sie war an diesem Nachmittag alles zu Ende. Sie konnte keinem in die Augen sehen. Sie hörte noch immer die Hohnreden vor der Umkleidekabine, sah noch immer die verzerrten Gesichter. Über die Gleisanlagen schlich sie aus dem Werk. Am Kesselhaus glaubte sie den Genossen Nickel und den Produktionsleiter zu sehen; sie kroch unter einen Kohlewaggon und rannte zum Bahnübergang.
Sie nahm den Weg durch den Wald, auf dem sie damals Peter Loose begegnet war. Aber heute sah sie das Grün der Bäume nicht; der Bach und die Gräser waren ohne Stimme. |303| Was hatte sie falsch gemacht? Nickels Vertrauen hatte sie enttäuscht. Und Jungandres, Dörner, Häring … Und Vater, wenn er es erfährt. Er wird nichts sagen, wird sie nur ansehen, und dann würde er sie aufmuntern wollen, auf andere Gedanken bringen, das aber war das allerschlimmste. Was, um alles in der Welt, konnte sie tun? Alles war gut gewesen, sie hatte Freude gehabt an ihrer Arbeit, war gern zur Schicht gegangen, sie war glücklich gewesen, wenn ihr etwas gelang und wenn einer, wenigstens einer, ihre Arbeit anerkannte. Und plötzlich war alles zerstört. Das Werk, das freundlich und voller Lebendigkeit gewesen war, war nun eine Stätte des Schreckens und der Demütigung. Die Maschine, die sie so liebte, wenn in den letzten Stunden der Nachtschicht langsam das Tageslicht die Lampen überstrahlte, war nun ein schrecklicher
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