Rummelplatz
Alptraum. Sie war in einen Abgrund gestürzt, keine helfende Hand war da, kein Weg und keine Hoffnung.
Sie erreichte die Siedlung, aber sie ging nicht nach Hause. Sie fürchtete sich vor dem Alleinsein, vor der leeren Wohnung, vor den Gegenständen, die so tun würden, als sei nichts geschehen. Sie lief ziellos die Wege entlang, an den Vorgärten vorbei, hin zum Wolfswinkel, wo die buckligen alten Häuser zu Tal stiegen.
Auf der Bank vor der Kirche saß die Fleischerswitwe, zwei rechts, zwei links, saß breit und geschwätzig. Neben ihr stand in schwarzer Würde der Pfarrer. Die Fleischerswitwe erzählte mit ihrer zänkischen Stimme Dorfklatsch. Die Würde strickte an der Sonntagspredigt.
Dann die winkligen Gassen hinter dem Friedhof, das holprige Kopfsteinpflaster, die gilben Grasbüschel, der versiegte Brunnen. Die Fenster der niedrigen Häuser waren geöffnet, Ruth sah hier eine alte Frau am Herd hantieren, da saß eine jüngere an der Nähmaschine. Das Mädchen, das dort im Hof die Ziege melkte, hatte vor vierzehn Tagen geheiratet. Im Nachbarhof schalt eine hohe Stimme ein kreischendes Kind aus. Dann schrie ein Mann nach seinen Stiefeln.
|304| Ruth spürte einen Blick im Rücken. Sie sah sich um und bemerkte einen Wismutkumpel, der sein Fahrrad putzte und auf ihre Beine starrte. Sie ging schnell weiter. Rechts das Haus war so niedrig, daß Ruth in die Dachrinne sehen konnte. Zwei Frauen standen am Gartenzaun, sie unterhielten sich laut und unbekümmert:
»… was denken Sie, die hat jetzt schon das vierte Kind. Wo doch der Mann kaum das Salz in die Suppe verdient …«
»… dem würd ich aber heimleuchten, wenn’s meiner wäre. Wo das bei dem bloß herkommt, so ein Hengst, dem man ’s ›Vaterunser‹ durch die Rippen blasen kann …«
Eine Frau mit einem Einkaufsnetz kam, Mohrrüben darin und Rote Bete, stellte sich zu den anderen. Der Weg stieg nun wieder an. Die Gartenzäune waren ungestrichen und die Latten morsch. Rechts war der Gasthof »Wolfswinkel«, Lärm in den geöffneten Fenstern, Männer, die nach der Schicht eingekehrt waren. Ein Stück weiter der Konsum, davor eine Schlange von zwanzig Frauen oder dreißig. Dann der alte Fleischerladen, zwei rechts, zwei links, dort war jetzt ein Lohnbüro der Wismut untergebracht. Auf dem Wiesenstück dahinter rupfte eine Häuslerin zaunentlang Karnickelfutter in die aufgehaltene Schürze.
Und plötzlich begriff Ruth das ganze Leben der Frauen des Wolfswinkels, der Frauen des Dorfes, der Erzgebirglerinnen, das Leben der Hausfrauen, der Arbeiterfrauen, der Kleinbürgerinnen, der Ehefrauen und Mütter im ganzen Land und überall auf der Welt. Dieses abhängige, enge, unveränderliche Leben, in dem sich vom fünfundzwanzigsten, spätestens vom dreißigsten Lebensjahr an nichts, nichts mehr änderte, wenigstens nicht zum Guten hin. In dem nichts geschah, auf nichts zu hoffen war, nichts erwartet wurde. Es war ein Älterwerden und Sich-Begnügen, ein Verharren auf dem Erworbenen, dem Vergänglichen und dem Vergangenen, dem Abziehbild irgendeines Glücks. Es war eine Welt, in der es nichts gab außer dem Mann, der von der Schicht kam, |305| nichts außer Miete, Essen, Wohnung und Heizung, nichts außer Wäschewaschen, Dielenschrubben, Sockenstopfen, und vielleicht einmal einem neuen Kleid, einem Sonntagsbesuch bei Verwandten, einer Geburt oder einem Todesfall. Die Kinder, solange sie die Eltern brauchten, waren das einzige Lebendige, das einzige, für das zu leben sich lohnte. Sie sah das unablässige Kommen und Gehen von Mädchen, Frauen, Müttern und Greisinnen, sah die lange, lange Kette der Tage, der Wochen und Jahre, aus denen sich nur die Sonntage abhoben und die Feiertage, und auch sie fast nur für die Männer, für die ledigen Frauen und kinderlosen; sah alte Frauen von Erinnerungen zehren und junge Erinnerungen schaffen für das Alter, sah sie einhergehen hinter den Ereignissen, hinter dem Leben, hinter ihren Männern her, ihren Ernährern, ihren Mittelsmännern zur Welt – und sie sah im Schicksal dieser Frauen ihr eigenes, festgeschmiedet wie mit Ketten an das, was immer gewesen war, durch die Jahrhunderte hin, unabwendbar, wenn nicht ein Wunder geschah, wenn nicht ein Wunder vollbracht wurde.
Und sie dachte: Was auch geschieht, du mußt durchhalten. Alles, nur nicht dieses lebendige Begrabensein, diese kleingezäunte Häuslichkeit, dieses Ersatzleben. Alles, nur nicht den Verzicht, die Genügsamkeit, die Abhängigkeit von allen und allem. Du
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