Rummelplatz
Kämpfe: Warschau, Brest, Minsk, Smolensk, Moskau. Schnee bedeckte die Erde – es war, als verhülle er die Spuren des Krieges mitleidsvoll vor Polotnikows Blick.
In Minsk aber, spätestens in Minsk, wurde der Krieg wieder Gegenwart. Polotnikow war in Brest umgestiegen – der Zug, mit dem er gekommen war, wurde umgespurt und fuhr nach Kiew weiter. Der Aufenthalt an der Grenze war kurz. Der Bahnhof mit den unterschiedlichen Spurweiten zu beiden Seiten, die Zollsäle, die Leute, die plötzlich alle russisch sprachen, und die vertrauten Aufschriften überall – ansonsten empfing ihn die Heimat beiläufig. Die Ruinen hätte man übersehen können. In Minsk aber, spätestens in Minsk, wurde der Krieg wieder Gegenwart.
Die Stadt schickte ihre Friedhöfe voraus. Ihre Trümmer, die Ruinen der Außenbezirke, die Ruinen der Innenstadt. Selten ein Stein, der auf dem andern geblieben war. Die hastig hochgemauerten Neubauten des ersten Aufbaujahres, ein Kalk ein Stein, die neueren, ein Kalk ein Stuckornament, und auf dem Denkmalssockel einer der Panzer, die die Stadt befreit hatten, einer aus seiner Division. In den Mauern noch das Erschrecken vor dem Tritt der Nagelstiefel, der Schüsse |384| Widerhall, die Kommandos, ein grauer Himmel über Lebenden und Toten. Und die gesprengten Fabriken, die Granattrichter, die Gräber, die verbrannten Gehöfte und die vergifteten Brunnen einen Tag und eine Nacht weit, Brest, Minsk, Smolensk, Moskau.
Der Artillerieoberst, mit dem Polotnikow das Abteil teilte, hatte Tee geholt. Sie rührten in ihren Teegläsern, rauchten Kasbek-Zigaretten. Der Oberst kam aus Berlin. »Zwei Jahre fast«, sagte er. »Meine Tochter muß mir jetzt ungefähr bis zum Kinn gehen. Haben Sie Kinder?«
»Ich fahre zu meinem Bruder«, sagte Polotnikow.
Der Oberst starrte in die Dunkelheit. Es hatte zu schneien begonnen. Der Zug fuhr langsam, als nähere er sich einer Station. Aber sie würden Smolensk in der Nacht passieren und gegen Morgen in Moskau sein – außer in Smolensk hielt der Zug nirgends.
Polotnikow zog die Uniformbluse aus. Er lag lange wach, schlief dann aber tief und fest. In dieser Nacht kehrte er wirklich heim.
Er erwachte erst ein paar Werst vor Moskau. Sie fuhren durch Birkenwald, an Datschen vorbei, viele waren neu, und das Holz war frisch, einige waren gestrichen. Der Oberst stand auf dem Gang vor dem geöffneten Fenster. Er hatte sich bereits rasiert. Der Fahrtwind blies ihm das kurze Haar in die Stirn, er lächelte.
Als Polotnikow sich wusch, fuhren sie schon durch die Außenbezirke. Der Morgen war sehr klar, die Wintersonne blendete. Draußen schritten hochbeinige Krane vorüber, sechs- und achtstöckige Häuser, und im Rücken der Steinfronten lehnten die alten, verfallenen Holzhütten.
Moskau!
Dann rollte der Zug langsam aus. Der Bahnhof war auch zu dieser frühen Stunde belebt. Polotnikow wollte sich von dem Artillerieoberst verabschieden, aber der stand am Fenster und winkte und rief jemandem etwas zu, da wurde Polotnikow |385| von den jungen Leuten im Gang weitergedrängt. Er erhaschte nur noch den Zipfel eines weißen Umschlagtuchs über einem schmalen Mädchengesicht – vorbei.
Er stieg aus. Er war gar nicht weggewesen. Er war immer hier. Daß die Bahnhofshalle keine Spuren des Krieges trug, wunderte ihn nicht. Es mußte so sein. Bis hierher hatte der Krieg keine Macht.
Da tauchte er ein in die Straßen der Stadt. Trolleybusse, Verkehrsampeln, Zeitungskioske, eine Baustelle. Plakate, Autos, Eisreklame, Schaufenster. Und Menschen, Menschen. Die Stadt staute sich an den Straßenübergängen, an Bushaltestellen, sie ging hastig, unausgeschlafen, fröstelnd, ging unauffällig, mit Würde, ging fröhlich. Sie drängte sich an den Metroeingängen, schwenkte Zeitungen, drückte Zigarettenstummel aus in steinernen Becken, trug Pelzmützen, Umschlagtücher, Galoschen.
Er fuhr zur Metro hinab, sank in jähe Wärme. Der Strom teilte sich, flutete nach rechts und links, sanfter roter Marmor und die gelben Fenster eines einfahrenden Zuges, das Grollen ferner Gewitter. Gerüche von Schnee, Lederzeug, Tabak, von Kleidern und Parfüm.
Ein Mädchen bot einen Sitzplatz an. Er lächelte ihr zu. Erst als niemand sich setzte, dankte er betroffen.
Der Zug stieß abwärts in die rasche Dunkelheit der Gänge.
Er hatte im Hotel zu Mittag gegessen. Dimitri erschien Schlag fünfzehn Uhr. Er kam hereingestürmt mit hochrotem Gesicht, den Mantel weit offen, ruderte mit seinen langen Armen. Sie
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