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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Bezüge, wollten die Begriffe nicht ihren gewohnten Platz einnehmen: Gestern, Vorgestern, Morgen und Heut. Für die Folgen hatte jemand einen Namen gefunden, Contusio cerebri, retrograde Amnesie, die Ursache aber ist noch namenlos. Die Zeit, die nicht stehenbleiben will, nicht stehenbleiben kann, webt wirre Maschen, läßt sie fallen, verwirrt die Fäden in ihrer Ungeduld, und muß doch jenen roten finden, jenen mittleren, den Eignerfaden, um den sich alles windet. Das Tau, das den Lebenswind in den Segeln hält – der Faden hält ihn nicht. Er darf nicht belastet werden außer Maß und Mitte. Irgend etwas in Peter schien das zu wissen.
    Da war der Platz vor dem Schacht, der große graue Platz, auf dem die Busse parken. Hatte er keinen Namen? Er ist deutlich zu sehen, Reifenspuren, zehn, zwölf SIS-Busse, grüner Lattenzaun, die Zeitungsbude und die beiden Lautsprecher am Holzmast. Hat er denn keinen Namen? Es ist eigentlich auch mehr ein Fußballplatz, der Chemnitzer CBC spielt da gegen den DSC, die gibt es beide nicht mehr, aber da steht Richard Hoffmann, und da läuft Helmchen und dort Wilimofsky, ganz deutlich, Wilimofsky, Ball am Fuß, dribbelt, zwei zu zwei, sagen die Lautsprecher, bis die Busse über den Rasen fahren, über den grauen Platz, und hupen, und es riecht nach Diesel, nach Gummi, eine Haltestelle, ein Parkplatz, ein Bahnhof für die Busse, und es riecht nach Auspuffgasen.
    Der Platz heißt Gummibahnhof. All diese Bushalteplätze heißen hier Gummibahnhof. Es ist aber verdammt finster, und die Scheinwerfer blenden. Und die Sterne fehlen. Kein Mond da. Ist denn nicht Vollmond? Wo ist denn der Mond hin? Da kommt noch ein Bus und dahinter gleich noch einer, das ist aber ein Kipper, Studebaker, Erzkipper Marke Molotow, kein Wunder, daß der Mond weg ist, bei diesen Flakscheinwerfern, |382| mein lieber Mann. Fahren wie die Säue. Sechzig in der Kurve und nicht abblenden und überholen. Hauen die Gänge rein, daß es nur so kracht. Hätte Kipperfahrer werden sollen. Verdienen ein Schweinegeld.
    Verdammt finster, die Sterne fehlen, kein Mond da. Jetzt kommt er raus. Das ist nun der Stülpnersteig, und da kommt Ruth, die Fischer-Tochter, guckt einen nicht an. Den Stülpnersteig hinab, Fuchsdelle, quer durch den Wald. Steht da nicht wer, hinter der Tanne? Ist aber nur ein Reisighaufen, und da sind auch schon die Lichter im Tal. Ingrid an den Bierhähnen. Ingrid mit dem Talmikettchen. Und der Steckbrief an der Säule. Ingrid mit dem gastlichen Bett. Wo sind denn die Busse hin? Da sind die Gleise und das trübe Lämpchen und die Bahnhofskneipe und …
    Der Gummibahnhof. Es kommt ein Bus direkt auf dich zu und dahinter ein Studebaker und dahinter ein Molotow. Voller Strahl auf allen Töpfen. Hatte man den Eindruck, daß die Schlußläuferin nicht mit voller Pulle lief. Das ist keine Art, also gehn wir in den Wald. Gehn wir also quer durch den Wald. Schneiden wir eine Ecke ab, ins Lager hinauf, in die Lagerkantine, einen Skat spielen mit Kleinschmidt und Spieß und Nothnagel. War eine Schnapsidee, da mitzumachen. Schneiden wir quasi eine Ecke ab, geht aber auch nicht schneller, wegen der Kletterei. Schnapsidee, war gar nicht im Sinne des Erfinders, Reklamepferd für die freie deutsche FDJ-Jugend. Nothnagel, Großfresse Nothnagel, zieht den Schwanz ein vor den Alten, wenn’s spannend wird. Da zieht der den Schwanz ein, mein lieber Mann! Wären wir da nicht wieder auf dem Weg? Da wären wir wieder auf dem rechten Weg, wenn er’s ist. Fichten und faulige Baumstümpfe.
    Bis hierher und nicht weiter. Er war unten aufgebrochen – oben angekommen war er nicht. Die Zeit war stehengeblieben. Als die aber stehenblieb, war ein Erinnerungsstück vorausgeeilt, das nicht mehr eingeholt werden kann. Die Zeit webt wirre Maschen, verwirrt die Fäden in ihrer Ungeduld, |383| und muß doch jenen roten finden, um den sich alles windet. Das Tau, das den Lebenswind in den Segeln hält – der Faden allein hält ihn nicht.
     
    Von dem Überfall auf Peter Loose erfuhr nahezu jeder im Schacht. Nur der Schachtleiter erfuhr nichts. Sergej Michailowitsch Polotnikow befand sich auf dem Weg nach Moskau.
    Es war Polotnikows erster Urlaub, seit er Schachtleiter war.
    Draußen vor dem Abteilfenster senkte sich die Dunkelheit. Entlang dieser Eisenbahnlinie kannte Polotnikow den Namen fast jeder Station; sie alle waren in den Frontberichten genannt worden, tagelang, Vorstoß, Rückzug, Kessel, Brückenkopf. Das war das Land der ungeheuren

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