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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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war frei. Sie schoben die Hunte ins Füllort.
    Nein, dachte Christian. Nein.
    4.
    Der Winter stieg aus den Bergen herab, blies Schneewolken vor sich her, die schlitzten sich an den Bergzinnen die Bäuche. Verschüttete Straßen, verwehte Talschneisen. Tags schritt er klirrend über die Äcker, er wölbte den Himmel höher in den Sternnächten.
    Im Lager Rabenberg war ein weiterer Trupp neuangeworbener Kumpel eingetroffen. Der Schacht 412 erfüllte wieder den Plan.
    Christian Kleinschmidt und Peter Loose gehörten nun schon zu den Alteingesessenen. Die Neuen gackerten aufgeregt durchs Lager; im Schacht erkannte man sie von ferne an ihrem nagelneuen Aufputz, an ihrer Unbeholfenheit. Da kehrten Christian und Peter die Würde der alten Auskenner heraus.
    Hermann Fischer hatte auf einmal Zeit. Da war der Plan gewesen, der nicht kam: jetzt kam er. Da waren Einsatzlisten und Unfallziffern, dreimal täglich geänderte Unabdingbarkeiten, waren Normen und Prämien und Fehlschichten und Saufereien. Da war die Stimmung im Lager: Duschanlagen, die kein Warmwasser hergaben, ein Großküchenchef, der Lebensmittel unterschlug, Schichtbusse, die immer wieder steckenblieben. Dagegen die Handvoll Genossen, die lächerlich kleine FDJ-Gruppe. Und da war eine Schlägerei der Baracke vier gegen die sechzehn, ausgetragen im Dorfgasthof »Gambrinus«, der Wirt klagte auf dreitausend Mark Schadenersatz. |121| Und war ein Mädchen eines Tages, das von einem spurlos verschwundenen Lokfahrer ein Kind bekam.
    Auch anderes. Konterrevolutionäre Sprüche beispielsweise, nachts an Barackenwände geschmiert. Heckert, der FDJ-Sekretär, zusammengedroschen auf dem Weg vom Schacht zum Lager. Der ewige Kleinkrieg mit Drushwili, das ewige Palaver um Bohrkronen und fehlende Hunte und geklautes Holz.
    Aber die Produktion lief. Stieg von neunzig Prozent auf fünfundneunzig und neunundneunzig und hunderteins. So um hundertfünf herum schaukelte sie sich schließlich ein. Freundliche Gesichter, wo man schon keine mehr erwartet hatte. Entspannung in der Atmosphäre. Dabei dieselben Schwierigkeiten wie immer, oder fast dieselben: mit dem Material, mit den Kumpels, mit der Abrechnung und der Planung. Aber der Erfolg spricht die Erfolgreichen frei; was immer Ursache gewesen war, war jetzt nur noch Begleiterscheinung, eine Frage der Zeit, man würde auch das schaffen. Und man gönnte sich eine Atempause, gestattete sich mal einen Blick zurück und einen voraus, und auch mal einen rechts und links vom Wege. Manches erledigte sich nun von selbst, weil nicht mehr von elf Seiten dran herum gefuhrwerkt wurde, von jeder Seite anders. Manches sah man klarer im Aufschauen. Vieles blieb, das der Anstrengung bedurfte, aber es hob sich nun deutlicher ab.
    Hermann Fischer hatte auf einmal Zeit.
    5.
    Er saß in der Fahrerkabine eines Molotow-Kippers. Knapp hinterm Zechenplatz war der ihm übern Weg gekommen. Er kannte viele von den Fahrern, und fast alle nahmen ihn mit, wenn er winkte. Der hier hieß Titte Klammergass. So saublöde Namen legten sich die Kerle zu.
    Er fuhr nach Hause.
    |122| Vier Wochen hatte er im Lager kampiert, und waren doch bloß acht, neun Kilometer zur Siedlung hinauf, vom Lager zum Wolfswinkel, den Rabenberg runter und das Tal lang und drüben den Berg wieder hoch. Aber man denkt immer, es geht nicht. Man traut sich nicht weg vom Schuß, weil man nie sicher ist, ob nicht gerade in dem Augenblick der Teufel losgeht, wo man mal den Rücken wendet. Und überhaupt: Hermann Fischer hatte zu lange in Lagern gelebt, in solchen und solchen. Es litt ihn nicht in dem Siedlungshäuschen, das die Partei ihm zur Verfügung gestellt hatte. Wo die Geräusche der anderen fehlten hinter dünnen Bretterwänden, der Männergeruch, wo die Gemeinschaft fehlte und die Unruhe und die Spannung und auch die Gefahr.
    Aber heute fuhr er nach Hause.
    Ruth würde warten.
    Und draußen der Schnee, über einen Meter hatte es gesetzt, zwei hatten Schneepflug und Fräse getürmt am Straßenrand. Da konnte man gerade noch drüberhinsehen von der Kabine aus, und manchmal auch nicht. Schmale Gänge, zu den Häusern geschaufelt, die steckten fest bis über die Fenster. Und immer die Bermsthaler Dorfstraße lang. Erst das Oberdorf, das lag tot. Da wohnte kaum noch jemand. Dann das Niederdorf. Mit der Kirche und dem evakuierten Friedhof. Mit Bahnhof und Papierfabrik und zwei Kneipen. Ziemlich verwinkelt alles. Bloß den Schornstein konnte man übers ganze Tal hin sehen, beinahe von jedem

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