Rummelplatz
bisher gehört hatte, waren unter den Flüchtigen ja mindestens drei, vier Maschinenführer, ferner zwei Werkführer, der Ingenieur Gerber und der technische Direktor, der Betriebsleiter Kautsky und der kaufmännische Direktor. Der Herr Zebaoth sagte: »Der Jungandres, der soll auch fort sein.« Er sah zu Ruth hinüber, die noch immer im Kalanderdurchgang stand. »Erst setzt er der Fischern den Maschinenführer ins Ohr, und dann …« Dörner unterbrach ihn: »Der nicht. Das ist so ziemlich der einzige, der nicht getürmt ist. Vor einer Stunde hab ich ihn übern Hof gehen sehen.«
Der Anlaß der Flucht blieb Thema Nummer eins. In allen Winkeln blühten giftig die Gerüchte. Steuerhinterziehung, Devisenschiebung, Schwarzhandel, Spionage. Hinter dem Kautsky soll die Stasi schon lange her sein. Stimmen wurden laut, die der Wahrheit ziemlich nahe kamen: Alles ist von |398| drüben gelenkt, die alten Konzernbosse, die Deutsche Papier AG, die DCG. Andere tuschelten auch: Braucht ja einer bloß einen politischen Furz zu lassen, schon steht er bei denen auf der Liste. Die werden schon gewußt haben, was ihnen hier blüht. Es werden noch ganz andere abhauen, wartet nur ab!
Viele aber dachten auch: Was soll nun werden? Können wir denn weiterarbeiten ohne Leitung? Muß der Betrieb stillgelegt werden? Es sind doch alles gescheite Leute, der Gerber, der Oswald, der Dr. Kautsky … Vielleicht ist das alles nur der erste Schlag; die Offiziere verlassen das sinkende Schiff? Solche wie die wissen doch immer, wohin der Wind sich dreht.
Es gab auch welche, denen diese Flucht die Augen öffnete; aufgeschreckt aus Unglauben und Gleichgültigkeit, sahen sie: es muß doch jemand ein Interesse daran haben, daß wir nicht herauskommen aus dem Dreck. Sie begannen zu begreifen, daß alles, was dem Werk geschah, auch ihnen angetan wurde. Und in vielen erwachte der Trotz.
Nickel saß dem Beauftragten des Ministeriums für Staatssicherheit gegenüber, einem noch jungen Major, der zusammen mit einem Leutnant und zwei Zivilisten aus der Kreisstadt herübergekommen war. Hertha Dörner, Nickels Sekretärin, hatte einem der Zivilisten die Personalakten der Geflüchteten übergeben; jetzt schrieb sie an einer Liste mit den Namen derjenigen Betriebsangehörigen – vom Maschinenführer aufwärts –, die bereits unter der Deutschen Papier AG an exponierter Stelle in Produktion und Verwaltung gestanden hatten. Die Liste wurde sehr lang.
Nickel rekapitulierte die Ereignisse. Erst jetzt, da er sie ordnen, die tatsächliche Reihenfolge wiederfinden mußte, wurden sie ihm wirklich bewußt. Den ganzen Vormittag über war er nicht zur Besinnung gekommen, die Ereignisse hatten einander gejagt, die Leute sich gegenseitig die Türklinke in |399| die Hand gedrückt, das Telefon hatte fast pausenlos geklingelt – und in diesem hektischen Durcheinander hatten die ersten Anweisungen gegeben werden müssen, Informationen weitergeleitet und Anordnungen getroffen, Korrekturen waren notwendig geworden, Widerruf von Anordnungen und neue Wirrnis, dieweil auch die Meldungen einander widersprachen und das Bild sich in immer anderer Richtung verzerrte; nahezu von Viertelstunde zu Viertelstunde hatten sie vor einer völlig veränderten Situation gestanden. Es war eine Anspannung, in der das Gefühl für Zeit und Dauer ganz und gar verlorengegangen war. Nun, im nachhinein, erschien alles gleichzeitig. Die Ebenen verschoben sich, geradezu boshaft versteckten sich die Einzelheiten eine hinter der anderen.
Dabei hatte der Tag angefangen wie jeder andere Montag auch. Schlag sieben Uhr hatte Nickel das Werk betreten, das brummte dumpf in die Dämmerung. Mit dem Morgennebel drückte der Rauch aus den Fabrikschornsteinen in den Talkessel, am Hang röhrten die Erzkipper auf, manchmal sickerte auch ein dünnes Klingelzeichen von den höher gelegenen Schächten herab – zu sehen war da drüben noch nichts, obschon der Berghang keine fünfhundert Meter entfernt war. Nur in der Nähe war ein bißchen Helligkeit: der Pförtner Beimler in seiner Lodenjoppe, vermummte Gestalten, die steif von Fahrrädern stiegen, weiter hinten die Umrisse der Kohlewaggons. Es war das gewohnte Bild.
Hertha Dörner war kurz nach ihm gekommen. Montags hatte sie immer eine Menge zu erzählen. Diesmal hatte Nickel aber nicht recht zugehört; den Sonntag abend war er mit Ruth im Kino gewesen, dann der lange Weg hinauf zur Siedlung Gottesruh, der alte Fischer hatte bereits geschlafen. Es war eine kalte
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