Rummelplatz
Nacht, und der Rückweg war weit, so hatte Ruth ihm schließlich auf dem Küchensofa ein Deckenlager zurechtgemacht. Am Morgen waren sie gemeinsam ins Dorf gefahren, Ruth mußte schon um sechs im Werk sein, Nickel |400| war noch in sein möbliertes Zimmer gegangen und hatte sich umgezogen …
Kurz nach sieben war dann der erste Anruf gekommen. Jeden Morgen nahm Hertha Dörner die Fehlmeldungen der Abteilungen entgegen; es war Grippezeit, der Krankenstand hoch, montags fehlten auch meist einige von den jüngeren Arbeitern unentschuldigt oder kamen zu spät, weshalb sich die Werkführer und Abteilungsmeister mit ihrer Meldung nicht sonderlich beeilten. Die ersten Anrufe waren aus dem Kesselhaus gekommen, vom Holzplatz, aus der Schleiferei; nichts Besonderes. Dann aber war Häring hereingeplatzt, der erste Gehilfe von der zweiten Maschine, hatte losgepoltert wie ein Türke:
»Ein Saustall ist das. Die hohen Herren kriegen wieder mal den Hintern nich’ aus ’m Neste! Ich kann schließlich den Schlitten nicht bis Mittag mit drei Leuten fahren!«
Als er sich ausgeschimpft hatte, erfuhr Nickel, daß der Maschinenführer Starke, allgemein Sosonaja genannt, nicht zur Schicht gekommen war. Häring hatte auf den Werkführer gewartet, und als der gegen halb sieben auch noch nicht da war, schließlich die Maschine auf eigene Faust angefahren. Eine dumme Geschichte. Jetzt war es halb acht, die beiden fehlten immer noch. Häring rannte wieder in die Halle hinüber, Nickel rief den Produktionsleiter an, der sein Büro drüben im Werk II hatte. Der war aber an die Kartonmaschinen gegangen, Nickel erreichte nur die Sekretärin.
Bis dahin hatte Nickel noch nichts Schlechtes geahnt. Die Arbeitsorganisation war schließlich nicht seine Angelegenheit, dafür waren Jungandres und seine Werkführer zuständig. Da aber klingelte das Telefon erneut. Nickel hörte die heisere Stimme des Werkführers Tuchscherer vom Werk II. Ob ihm, Nickel, etwas bekannt sei, wo der Herr Maschinenführer Schick, Kartonmaschine V, abgeblieben sein könne. Nickel hatte keine Ahnung. Aber der erste Verdacht eines Unheils hatte sich geregt, und es hatte auch nicht lange gedauert, |401| bis er Bestätigung fand. Benedix, der Parteisekretär, war mit dem BGL-Vorsitzenden Brüstlein gekommen, beide in heller Erregung; Nickel hatte die Szene noch deutlich vor Augen:
Benedix: »Hast du ’ne Ahnung, wo Hengstmann ist?« – Hengstmann war der kaufmännische Direktor. »Aus dem Panzerschrank fehlen die Unterlagen für die Betriebsabrechnung; der Hauptbuchhalter hat ihn eben geöffnet. Kautsky ist noch nicht im Werk, auch Niemeyer nicht.«
Nickel: »Nein, ich weiß nichts … Wir … wir müssen die Kripo anrufen.«
Brüstlein: »Warte noch. Ruf erst Kautskys Privatnummer.«
Nickel hatte gewählt – harmlos tutete das Freizeichen. Sie hatten Niemeyers und Hengstmanns Privatanschluß angerufen, hatten auf Nickels beiden Apparaten wild in der Gegend telefoniert, Büro des Betriebsleiters, Büro des kaufmännischen Direktors, noch einmal Kautsky privat, Büro des technischen Direktors, dort meldete sich die Sekretärin und bestätigte nur, was sie schon wußten: keiner der Direktoren war zum Dienst erschienen; dann ein Anruf vom Turbinenhaus, wo zum Teufel der Energieingenieur bliebe – sie hatten sich angesehen, bleich, verbissen, dann …
Benedix: »Ruf die Staatssicherheit an!«
So hatte es begonnen. An das Gespräch, das er am Vortag mit dem alten Beimler gehabt hatte, hatte sich Nickel schon während dieser Szene erinnert – gesagt aber hatte er nichts. Danach hatte er es auch wieder vergessen. Die Ereignisse hatten sich überstürzt, keine ruhige Minute mehr, keine Zeit, einer Erinnerung nachzugehen.
Benedix hatte begonnen, seine Anweisungen zu geben – er schien sie irgendwo in sich fertig vorzufinden, als stecke in diesem schmalen, kleinen Mann mit dem versteinerten Gesicht noch ein zweiter, energiegeladener, einer, der nur auf die Gefahr gewartet hatte, um aus der alten Hülle hervorzubrechen und die schwankende Welt wieder in ihre Fugen |402| zu zwingen mit hartem Griff und kühler Besonnenheit. Er traf seine Anordnungen wie nach einem hundertfach durchgeübten Plan: Er rief sämtliche Meister und Abteilungsleiter zu sich, jagte Kuriere los, die Kraftfahrer, den Betriebsschutz auf Fahrrädern, ließ die Werk- und Maschinenführer der beiden Freischichten ins Werk holen, telefonierte mit der Hauptverwaltung, mit der Kreisleitung, rief die
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