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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Parteigruppe zusammen, ließ die erste Maschine abstellen und verteilte die Besatzung auf die übrigen, hatte ein Gespräch mit dem Produktionsleiter Jungandres, ein anderes mit dem Hauptbuchhalter, ein drittes mit dem Turbinenmeister – nach zwei Stunden, die Staatssicherheit war bereits im Betrieb, hatten sie endlich einen Überblick, endlich das Gefühl, den ersten, den Überraschungsschlag abgefangen zu haben. Offen blieb, was sich aus der Flucht im nachhinein noch ergeben würde.
    Dies alles aus unmittelbarer Nähe zu sehen, ja, daran beteiligt zu sein, war für Nickel ein erregendes Erlebnis. Ihm war zumute gewesen, als sei er in ein berauschendes Abenteuer hineingeschleudert worden – und habe es bestanden; eins von der Art, wie er sie als Knabe in den zerlesenen Büchern gefunden hatte, die heimlich von Hand zu Hand gingen. Daß seine eigene Rolle dabei recht bescheiden geblieben war, hatte er nicht empfunden, im Gegenteil. Und auch jetzt, da er dem Major gegenübersaß und sich mühte, die Einzeleinstellungen dieses so ungeheuer rasch ablaufenden Films festzuhalten, auch jetzt hatte er das Gefühl, eine Schlacht geschlagen, einen Sieg errungen zu haben in vorderster Reihe.
    Gleichzeitig ward ihm unbehaglich. Die Stille, nach der Aufregung der letzten Stunden fast körperlich spürbar, begann ihn zu bedrücken, das Zimmer beengte ihn, er kam sich vor wie außer Betrieb gesetzt. Der Major saß straff aufrecht vor ihm, kritzelte mit dünner Bleistiftspitze Bemerkungen auf ein Blatt Papier, behielt dabei aber die ganze Zeit über ein seltsam unbeteiligtes Gesicht. Seine neutrale Sachlichkeit |403| wirkte einschläfernd. Jedesmal aber, wenn die Müdigkeit ihre äußerste Grenze erreicht hatte, wenn Nickels Monolog verebbte und die Stille gerade ins Wohltuende umschlagen wollte, jedesmal dann riß der Major das sanfte Gewebe wieder auseinander, warf eine seiner Fragen hin – Nickel schreckte dann auf, er vergaß, daß dies ein Gespräch war, hatte vielmehr das Gefühl, sich in einem Verhör zu befinden, und langsam bekam er tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Dabei waren die Fragen durchaus sachlich, sie betrafen nicht etwa den Personalleiter Nickel, sondern die puren objektiven Ereignisse, sie waren konkret, insuggestiv und – falls es das gibt – beinahe schon überkorrekt. Nickel hätte selbst nicht sagen können, was ihn irritierte; die Fragen waren es nicht, auch nicht der Ton, überhaupt, so schien ihm, nichts eindeutig Benennbares – was aber war es dann?
    Seine Stimmung jedenfalls, das Gefühl der überwundenen Gefahr und der bestandenen Bewährung, schwand merklich dahin. Am liebsten wäre er aufgestanden und hinausgerannt, in den Lärm der Hallen hinüber, in die Betriebsamkeit dieses Tages; er wäre jetzt gern bei denen gewesen, mit denen gemeinsam er die Anspannung der vergangenen Stunden erlebt hatte, auch mit Ruth hätte er sehr gern gesprochen und überhaupt mit allen im Betrieb, die den Ereignissen nicht so hautnah gewesen waren wie er, sie würden ihn mit Fragen bestürmen, würden wissen wollen, wie alles entdeckt und entwirrt worden war, was überhaupt alles ans Tageslicht gekommen sei und – wie es nun weitergehen solle. Ja, dort war sein Platz in dieser Stunde, nicht hier. Wenn er die Maschinenhallen sah, vor dem Fenster draußen, so konnte er geradezu spüren, wie es überall brodelte und prickelte, wie es wob und wob, und bei dem Gedanken daran, was alles er versäumte, während er die Zeit versaß mit diesem Major, begann es zu kribbeln in ihm. Es hielt ihn nicht mehr auf seinem Stuhl, er mußte aufstehen und sich Bewegung verschaffen, er tat es auch – und verspürte sogleich eine heimliche Genugtuung darüber, daß ihn der |404| Major wenigstens daran nicht hindern, ihn nicht festnageln konnte auf seinem Stuhl. Schließlich war das sein Zimmer, und er war hier Personalleiter, der Major nahm seine Zeit in Anspruch, nicht er die des Majors. Übrigens: Diese Über- und Unterschwänge hatte der Personalleiter Nickel oft. Ruhe, Stille, Alleinsein – derlei Zustände ertrug er nur bei einiger Ausgeglichenheit. Wenn ihn aber etwas bedrückte, eine überdurchschnittliche Verantwortung etwa oder das Wissen um Schwierigkeiten, Widersprüche und Konflikte, so mußte er unbedingt einen Mitwisser haben, einen, der das Päckchen tragen half, oder besser noch: mehrere. Und dieses Mitwissers, dieses Zuschauers oder Publikums bedurfte er auch, wenn das Normalmaß an Ausgeglichenheit nach der

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