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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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nicht, sehen Sie ja. Ja, aber trotzdem. Komme ich mal vorbei, ehe Sie fahren. Und einen schönen Gruß auch, wenn Sie ihm schreiben. Rufe ich Sie also mal an in dieser Papierfabrik, wenn das geht. Ja, sagte sie, natürlich.
    |569| Dann stand er auf der Straße, unweit der Haustür, wußte nicht recht, wohin mit sich. Wenn sie oben aus ihrem Fenster geschaut hätte, sie hätte ihn stehen sehen und sich wohl ihren spöttischen Vers gemacht auf seinen eiligen Aufbruch. Komischer Vogel, erst war er ganz gesprächig und beinahe nett, aber auf einmal. Muß ihm wohl eine Laus über die Leber gelaufen sein. Er stand aber da unten und dachte: wenn die Geschichte wirklich so ist, und daran ist kaum zu zweifeln, dann ist sie verdammt übel. So mir nichts, dir nichts vier Jahre, bloß weil einer in der falschen Gegend gestanden hat. Vier Jahre, als ob das nichts wäre. Und erinnerte sich an allerlei Geschichten, die man so hört, und an ihren Satz: Heute gibt es doch in jeder besseren Familie einen, der sitzt. Ja, schon. Da hatte er vor zwei, drei Monaten gesehen, wie sie den Laden von so einem Antiquitätenhändler ausräumten, und es kamen gar seltsame Antiquitäten zum Vorschein: Säcke mit Mehl, Zucker, Maisgrieß, Kisten voller Konserven, Speckseiten und ganze Kartons ranziger Butter, Fettbücklinge in Kisten, die gen Himmel stanken, und ein Zentner Kaffee, Milch in Dosen für ein ganzes Kinderheim, Fischbüchsen, davon mehrere geplatzt, drei Kisten mit Zitronen, mehrere tausend Paar Damenstrümpfe, eine Tonne genießbarer Lebensmittel und eine halbe Tonne verdorbener, sechzig Paar Schuhe noch in Kartons, Ballen Anzugsstoffe und ein Arsenal von Damenunterwäsche, und Zigaretten natürlich, Zigaretten … Ja, solche Leute schon. Fünf Jahre für so einen, vier Jahre für Peter Loose, damit man den Unterschied sieht. Und was kann man tun? Fischer schickte Zigaretten. Wenn sogar der nicht mehr tun kann, wer dann?
    Als ob diese Gegenwart nie zur Ruhe kommen könnte. Dabei wußte er natürlich, daß es tödlich wäre, könnte sie es. Etwas anderes war gemeint und nur nicht auf einen Nenner zu bringen. Die Menschheit, das zentrale Experiment, das sich die Natur leistet. Der Sozialismus, die Befreiung der Menschen. Und diese kläglichen, kleinlichen Verfahrensweisen, |570| das ging nicht überein, das entsprach der Sache nicht und nicht der Idee, wie die Erstickung in Papier und Beschallung nicht entsprach, der Autoritätsfetischismus und die Kleingeisterei, die Buchstabengläubigkeit und die Epidemie in Mißtrauen. Aber was war zu tun? Wo war der Ursprung? Und wo der Weg, der herausführt?
    Stand auf der Straße, starrte in den späten Nachmittag, wußte nicht wohin. Und der Regen, der über dem Tal lag, verwischte alle Konturen, beließ alles im ungewissen, und doch ging der Tag nur dem vergeblichen Abend voraus, der wenig Schlaf bringen würde und wenig Freundlichkeit. So setzte er einen Fuß vor den anderen, ging so hin und sah nur: es betraf alle und also auch ihn. Und war nun eigentlich angekommen.

    Aber es setzte doch eine Wetterbesserung ein in der Nacht zum Freitag. Der Wetterbericht meldete weiterhin Bewölkung an und gelegentliche Niederschläge, er versprach Höchsttemperaturen um vierundzwanzig Grad.
    In den Morgennachrichten war die Rede von den Waffenstillstandsverhandlungen in Korea, ein Fortschritt war abzusehen, der Schriftsteller Martin Andersen Nexø hatte zwanzigtausend Mark gespendet für den Wiederaufbau der Stadt Dresden, ferner hatte eine Sitzung des Politbüros stattgefunden am neunten und eine des Ministerrates am elften Juni, betreffend die entscheidende Verbesserung der Lebenshaltung aller Teile der Bevölkerung sowie eine beträchtliche Stärkung der Rechtssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik: ernste Fehler, hieß es, seien begangen worden.
    Schon im Waschraum erfuhr jeder davon, spätestens im Schichtbus. Das war Christians erster Arbeitstag nach fast einjähriger Pause, der fing gut an. Plötzlich war alles der Meinung. Als ob eine Last aufgehoben wäre mit einemmal, ein Druck genommen von allen, ein Spannungshöhepunkt überschritten |571| und der Bogen jäh abgebrochen: es waren wieder Gespräche möglich mit offenem Ausgang. Noch konnten die einen nicht glauben, andere nicht übersehen. Zweifel kamen auf, Vermutungen, Befürchtungen sogar, aber die nur bei wenigen: das Aufatmen war allgemein. Jeder sprach mit jedem und hoffte mehr zu erfahren, vergessene Aussichten taten sich auf und

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