Runenschild
Herzschlag lang starrte er Merlin ebenso fragend und durchdringend an, wie Gwinneth es tat, aber
dann wandte er den Blick und sah zu dem großen Eisentor
auf der anderen Seite des Sees hin.
Ein flüchtiges, wenn auch sonderbar trauriges Lächeln
huschte über Merlins Gesicht. Er hob fast beiläufig die
Hand und bewegte die Finger und im nächsten Moment
schwang das Tor lautlos und wie von Geisterhand bewegt
auf.
Dahinter lag die Tir Nan Og.
Es waren nicht die dunkelgrünen, schattigen Wälder, in
denen Lancelot schon gewesen war, es war nicht die ungleich größere, prachtvollere Schwester Camelots, die er
damals gesehen hatte, und auch nicht das Dorf, in dem er
den Elbenjungen getroffen hatte. Es war das Paradies.
Auch hinterher, in all den Jahren, die folgen sollten, und
sooft Lancelot auch darüber nachdachte und versuchte
sich die Szene wieder in Erinnerung zu rufen, sollte es ihm
nie gelingen, das Bild in Worte zu kleiden, das sich Gwinneth und ihm bot. Vielleicht weil es in der Sprache, die er
gelernt hatte und in der er dachte, keine passenden Worte
dafür gab. Sie sahen lebendes Grün, sanft wogende Hügel,
einen Himmel in der Farbe von strahlendem Azur, bunte
Fabelwesen und Tiere, die in friedlicher Eintracht nebeneinander lebten, glückliche Menschen voller Stolz und
Würde, und tausend andere Dinge, für die er keine Worte
fand und die ihm doch so vertraut waren, als wären sie
vom Moment seiner Geburt an ein Teil von ihm gewesen.
Es war nicht das, was er sah , was ihn – und zweifellos
auch Gwinneth, der es nicht anders erging – so sehr berührte wie nie zuvor irgendetwas anderes. Es war das, was
er fühlte . Es war dasselbe Bild, das sich ihnen damals geboten hatte, im Keller Camelots, als sie zum allerersten
Mal allein waren und Merlins Zauberbuch aufschlugen,
die Welt auf der anderen Seite der Wirklichkeit, die Tir
Nan Og, die Insel der Unsterblichen. Aber es war auch
mehr. Es war alles, was er jemals hatte haben wollen, alles, wofür es sich zu leben und sogar zu sterben lohnte,
nur dass es in dieser Welt keinen Tod gab und dass das
Glück dort für alle Ewigkeiten währte.
»Unsere Heimat«, flüsterte Gwinneth.
»Ja«, bestätigte Merlin. »Zumindest die Welt, in der ihr
geboren seid.«
Gwinneth schien nicht genau zu verstehen, was er mit
diesen Worten meinte, denn sie löste – wenn auch mit
sichtbarer Anstrengung – ihren Blick einen Moment lang
vom Tor und dem Ausschnitt der Insel der Unsterblichen,
der sich ihnen dahinter bot, und sah Merlin irritiert an,
aber Lancelot nickte nur traurig. Auch das überraschte ihn
nicht. Tief in sich hatte er die ganze Zeit über nicht nur
gespürt, dass Merlin irgendwo hier in ihrer Nähe war,
sondern auch warum.
»Du willst dorthin zurück.« Merlin schüttelte lächelnd
und nur andeutungsweise den Kopf, als Gwinneth dazu
ansetzte, ihm zu widersprechen. »Du musst dich deshalb
nicht schämen, mein Kind. Ich weiß, welchen Schmerz du
erlitten hast und noch erleidest. Dort drüben würdet ihr
Frieden finden, beide.«
»Aber wir könnten nie wieder zurück«, flüsterte Lancelot.
Er sah aus den Augenwinkeln, wie Gwinneth erschrocken die Luft anhielt, doch Merlin wandte sich nun
ganz zu ihm um, sah ihn einen Herzschlag lang durchdringend an und nickte dann ernst.
»Ja.«
»Aber … aber wieso?«, flüsterte Gwinneth. Ihr Blick irrte für einen Moment wieder zu der offen stehenden Tür in
eine andere Welt und kehrte dann fast flehend zu Merlins
Gesicht zurück. »Ich verstehe das nicht.«
»Ich glaube, du verstehst es schon, mein Kind«, korrigierte Merlin sie sanft. »Lausch in dich hinein. Die Antworten auf alle Fragen, die du dir je gestellt hast, sind dort.
Der Weg ist offen. Niemand wird versuchen euch aufzuhalten und niemand wird euch dort drüben ein Leid tun.
Doch willst du wirklich dorthin?« Er kam noch einmal
näher, blieb aber erneut stehen, gerade bevor er nahe genug gekommen wäre, um ihn zu berühren, und Lancelot
sah, dass er irgendwie … unwirklich war. Er war kein
Geist oder Trugbild, und doch war es, als fehle ihm ein
winziges bisschen um Realität zu werden. »Uns bleibt
nicht viel Zeit«, fuhr er fort. »Zu viel steht auf dem Spiel.
Deswegen habe ich auch den Iren Sean und seine Brüder
damit beauftragt, über euch zu wachen, und ihnen einen
ganz besonderen schwarzen Elben-Hengst mit auf den
Weg gegeben, der niemals eure Spur oder die Tintagels
verlieren konnte …«
»Du warst
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