Runenschild
Augenblick, und auch die dünnen roten
Schmerzpfeile, die die gesplitterten Enden seiner gebrochenen Fingerknochen in sein Fleisch versenkt hatten,
waren fort. Vollkommen fassungslos bewegte Lancelot die
Finger, ballte die Hand zur Faust und hielt sie dann noch
einmal vor die Augen. Er konnte regelrecht dabei zusehen ,
wie seine verbrannte Haut heilte.
Im nächsten Augenblick war er neben Gwinneth, zerriss
das Kleid über ihrer rechten Schulter und schöpfte mit
beiden Händen Wasser, das er in den tiefen Stich in ihrem
Fleisch tropfen ließ.
Das Wunder wiederholte sich. Diesmal konnte er wortwörtlich zusehen, wie die Wunde zu bluten aufhörte und
sich dann rasch und lautlos und eindeutig nicht wie , sondern durch Zauberei schloss.
Gwinneths Zittern ließ nach und hörte schließlich ganz
auf und die unnatürliche Blässe ihres Gesichtes verschwand. Und endlich öffnete sie auch wieder die Augen.
Der Schmerz war aus ihrem Blick verschwunden – zumindest die körperliche Qual –, doch was Lancelot darin las,
ließ ihm trotzdem einen eisigen Schauer über den Rücken
laufen.
»Was … was hast du getan?«, murmelte sie. Ohne seine
Antwort abzuwarten setzte sie sich auf, blickte ihre Schulter an und tastete schließlich vorsichtig mit den Fingerspitzen über ihre Haut, die noch rot von ihrem eigenen
Blut war, aber unversehrt.
»Nichts«, antwortete Lancelot. Er hob die Hand und bewegte die Finger. »Es ist das Wasser. Es hat deine Wunde
geheilt. Und meine auch.«
Gwinneth blickte verwirrt seine Hand, dann noch einmal
ihre Schulter an, setzte sich schließlich auf und streckte
ebenfalls den Arm nach dem Wasser aus, verharrte aber
dann mitten in der Bewegung, als wage sie nicht, es zu
berühren. Lange, unendlich lange, wie es Lancelot vorkam, glitt ihr Bück über den unterirdischen See, verharrte
einen Moment auf dem schimmernden Kristall in seiner
Mitte und suchte schließlich das jenseitige Ufer und das
große, aus schwarzem Eisen geschmiedete Tor.
»Dahinter«, sagte sie leise.
»Ich weiß«, sagte Lancelot. Er wusste, dass sie Recht
hatte und hinter diesem aus schwarzem Eisen geschmiedeten und von magischen Runen versiegelten Tor ihre Heimat lag, die Welt, aus der sie kamen, in die sie gehörten
und in der sie allen Zorn, alles Leid und alle Angst hinter
sich lassen würden. Ebenso wusste er – ohne einen Beweis
dafür nötig zu haben –, dass es sich dieses Mal für sie öffnen würde. Was immer diese Höhlen auch waren, sie gehörten schon nicht mehr ganz zur Welt der Menschen und
sie befanden sich in einem Teil der Wirklichkeit, in dem
Beweise so wenig nötig waren wie Logik – und auch die
Zeit gehorchte hier ganz anderen Regeln als für gewöhnlich.
»Seid ihr sicher, dass es das ist, was ihr wollt?«
Gwinneth fuhr erschrocken zusammen, wirbelte herum
und stieß einen halblauten, kleinen Schrei aus; vielleicht
auch nur ein Keuchen, das zu einem Schrei werden wollte,
ohne dass es ihr gelang. Lancelot jedoch war nicht erschrocken, ja nicht einmal wirklich überrascht, als er sich
– langsamer als Gwinneth und erst einen Wimpernschlag
später als sie – ebenfalls umdrehte und die schmale, weißhaarige und bärtige Gestalt erblickte, die hinter ihnen aus
dem Gang getreten und auf halber Strecke stehen geblieben war. Er fragte sich, wie lange Merlin schon dort verweilte und sie beobachtete.
»Merlin?«, hauchte Gwinneth. »Du … Ihr … aber ich
dachte, Ihr wärt …«
»Tot?«, fragte Merlin mit einem verzeihenden Lächeln.
Er kam näher. Seine Schritte waren langsam und er bewegte sich so mühevoll und mit weit nach vorne gebeugten Schultern, als trüge er eine unsichtbare Zentnerlast
darauf. Und dennoch strahlte er zugleich eine Kraft und
Stärke aus, die Lancelot innerlich erschauern ließ. »In gewissem Sinne war ich das vielleicht«, fuhr er fort, »aber
der Tod ist nicht das, wofür ihn die meisten halten.«
»Dann … dann seid Ihr …«
Merlin unterbrach sie mit einem sanften, aber auch sehr
entschiedenen Kopfschütteln, kam um einige weitere
Schritte näher und machte dann eine auffordernde Handbewegung. »Ich bin nicht hier, tun über mich zu sprechen.
Eure Zeit ist knapp. Ihr habt viel weniger davon, als ihr
glaubt.«
Gwinneth sah den weißhaarigen alten Magier nur irritiert
an, aber Lancelot glaubte zu wissen, was er mit diesen
Worten meinte – auch wenn es ihm nicht möglich war,
den Gedanken zu fassen und seinerseits in Worte zu kleiden. Einen
Weitere Kostenlose Bücher