Runlandsaga - Wolfzeit
Recht auf ihren Brauch!«
Langsam wendet sich Neria Enris zu. Ihr kalter Blick trifft auf ihn, aber er beachtet ihn kaum. Er sieht nur das Blut, das aus der Wunde an ihrem Arm getreten ist und ihr Handgelenk erreicht hat.
»Du hast gesagt, im Schmerz werden wir einander gleich«, hört er sie sagen, die Worte schwer von ihrem fremdartigen Akzent. »Du hast recht. Im Schmerz ist Wahrheit.«
Die Anwesenden weichen vor ihr zurück, als sie wieder nach hinten tritt.
Suvare bedeutet Garal und Calach, Arcads Körper dem Meer zu übergeben. Langsam heben die beiden die Planke an. Der Sack mit dem Leichnam rutscht über Bord und verschwindet in der See. Nach wenigen Momenten ist nur noch ein Schatten unterhalb der Wasseroberfläche zu erkennen. Dann rollen weiter die Wellen über diese Stelle hinweg, wie sie es schon Jahrhunderte zuvor getan hatten. Als wäre all dies ein Traum gewesen, bedeutungslos, nie geschehen.
Wie entsetzlich ist die Größe der Natur, die uns umgibt, denkt Enris. Sie treibt uns alle dazu, ihr etwas entgegenzusetzen, eine Erinnerung, ein Erbe, wenn es nur irgendetwas ist, das Dauer hat, etwas, das bleibt.
So hatte Arcad der Harfenbauer heute Morgen sein letztes Geleit fern von den Mondwäldern erhalten, in denen er seine größten Werke geschaffen hatte.
Und Neria hatte sich benommen, als ob jemand aus ihrer eigenen Familie bestattet worden wäre. Was für ein widersprüchliches Mädchen! Obwohl das, was Teras da gerade angedeutet hatte, völliger Unsinn war. Der wollte ihn doch nur aufziehen, und er fiel natürlich prompt auf diese dummen Sticheleien herein und wurde auch noch verlegen!
Mirka zupfte Enris am Arm und vertrieb seine Gedanken. »Suvare will dich sprechen.«
»Ich komme schon«, sagte er und folgte dem Jungen zu der Khorskajüte. Am Eingang stand bereits Themet. An seinen Beinen lehnte der Rucksack, mit dem seine Eltern aus ihrem Haus gerannt waren. Ein eigenartiges Gefühl überkam Enris bei diesem Anblick, als sei ihre Flucht aus dem Schwarzen Anker schon vor langer Zeit geschehen – vor Jahren, und nicht erst vor wenigen Tagen.
Suvare trat an dem Jungen vorbei aus der Kajüte. »Bist du soweit, um an Land zu gehen?«
»Ay, wir können uns auf den Weg machen«, entgegnete Enris. »Wer bleibt an Bord zurück?«
»Daniro natürlich. Dann hat sich Teras freiwillig gemeldet. Er will darauf achtgeben, dass Daniro keine Dummheiten macht, während wir nicht da sind. Außerdem wird er ein Auge auf unseren ›Gast‹ haben.«
Enris wusste, wer damit gemeint war. Der Pirat, den sie an den Weißen Klippen gefangen genommen hatten, lag seitdem gefesselt unter Deck. Suvare sah an Enris vorbei zu Calach und Torbin, die sich mittschiffs zu den Bewohnern von Andostaan gesellten, um gemeinsam mit ihnen die Tjalk zu verlassen. Unvermittelt wandte sie sich den beiden Jungen zu, die Enris nicht von der Seite wichen. »Geht schon voraus zu den anderen! Wir kommen gleich nach.«
»Ah, jetzt wollen sie wieder was bereden, das wir nicht hören sollen.« Mirka klang beleidigt, aber seine Augen verrieten, dass er nur spielte.
»Erwischt«, gab Suvare überraschend freundlich zurück. »Dir kann man eben nichts vormachen.«
Mirka grinste und trollte sich.
»Warte doch«, rief Themet ihm nach. Er warf sich den Rucksack mit einiger Mühe über die Schulter und lief gebückt seinem Freund hinterher.
Enris ahnte, weshalb Suvare mit ihm allein sprechen wollte. »Habt Ihr schon irgendetwas aus dem Kerl herausbekommen können?«
»Kein Wort«, gestand Suvare leise. »Mehr als seinen Namen hat er bisher nicht verraten. Und ich will ihn ungern härter anpacken, solange die anderen Flüchtlinge an Bord sind, besonders die Kinder. Die sollen das nicht miterleben. Nicht, nach allem, was sie schon durchgemacht haben.«
Enris hatte eine Ahnung davon, was Suvare vorschwebte. Der Gedanke, dass Arene oder eines der beiden Kinder das mitbekam, war bedrückend. Dass sie von diesem Kerl und seinen Kumpanen erst vor wenigen Tagen beinahe auf das Totenboot geschickt worden wären, war dagegen in den Hintergrund gerückt. Eine verschwommene Erinnerung, deren damit verbundenes Ereignis auch vor langer Zeit hätte passiert sein können, genauso wie der Gedanke an die wilde Flucht zum Hafen beim Anblick von Themets Rucksack. Vielleicht waren die Geschehnisse, die zu diesen Erinnerungen gehörten, so entsetzlich und vor allem unglaublich, dass sich der Verstand weigerte, sie in aller Schärfe und Klarheit im
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