Runlandsaga - Wolfzeit
Gedächtnis zu bewahren.
»Aber ... jetzt ist gleich fast niemand mehr an Bord.«
Suvare musterte ihn ausdruckslos. Da sie nichts erwiderte, sah er dies als Aufforderung an, weiterzureden.
Enris räusperte sich. Wenn ihm vor wenigen Tagen jemand gesagt hätte, dass er diese Gedanken laut aussprechen würde, hätte er ihm nicht geglaubt, sondern gesagt, eine solche Härte würde nicht in ihm stecken. Aber da hatte er auch noch nicht gesehen, wie eine Stadt niedergebrannt worden war. Die eigentliche Erinnerung mochte nur noch nebelhaft sein, aber dennoch hatte sie genug Macht, um Gedanken in ihm hervorzubringen, die ihm fremd waren.
»Wir könnten später an Bord zurückgehen und uns den Kerl vorknöpfen – ungestört. Solange, bis er uns endlich sagt, was wir wissen müssen. Daniro und Teras werden damit bestimmt keine Probleme haben.«
Suvare atmete langsam aus. »Genau das war mein Gedanke. Gut, dass wir dieselbe Sprache sprechen. Ich kenne die See um die Arcandinseln nicht. Bisher war ich klug genug, einen Bogen darum zu machen. Ich sagte ja schon, das ist Piratengebiet.«
Ein freudloses Lächeln spielte um ihren Mund, als sie weitersprach. »Wird Zeit, dass ich aufhöre, so klug zu sein, und ein paar Dummheiten begehe. Hoffentlich hatte der tote Endar recht und wir finden tatsächlich auf diesen von den Göttern verlassenen Felsen im Meer einen Zugang zur Welt der Dunkelelfen! – Aber uns muss eines klar sein.«
»Was?«, wollte Enris wissen. Ihm fiel auf, dass sie sich, obwohl niemand in ihrer Nähe stand, so leise unterhielten, als planten sie eine Verschwörung.
»Wir haben nicht viel Zeit, um von dem Kerl herauszufinden, wo wir auf den Arcandinseln sicher an Land gehen können. Alle wissen über den Piraten Bescheid. Selbst wenn ich jetzt noch den Befehl geben würde, Stillschweigen zu bewahren, würden sich einige der Flüchtlinge bestimmt nicht daran halten, Larcaan und Thurnas an erster Stelle. Solange sie an Bord meines Schiffes waren, befolgten sie alle meine Anweisungen, aber das ist jetzt vorbei. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Rat von Menelon erfahren wird, dass wir einen Mann aus Shartans Bande in unserer Gewalt haben. Dann werden sie fordern, dass er ihrer Gerichtsbarkeit übergeben wird. Die Handelsschiffe dieser Stadt hatten in der Vergangenheit oft genug unter dem Hecht und seinen Leuten zu leiden. Der Rat wird sich freuen, einen Piraten aufknüpfen zu können. Dann werden wir keine Möglichkeit mehr haben, etwas von ihm herauszubekommen.«
»Es muss also schnell gehen«, bekräftigte Enris.
»Ay, wir setzen dem Kerl so zu, bis er uns verrät, was wir wissen wollen. Am besten heute Abend. Calach und Torbin gebe ich die Erlaubnis für Landgang, dann kommen sie bestimmt erst am nächsten Tag wieder. Immerhin ist heute die Vellardinnacht.«
Das Frühlingsfest!
Enris hatte es in den Aufregungen der letzten Tage völlig vergessen gehabt. Menelons Straßen würden bis zum morgigen Tag mit feiernden und sich betrinkenden Menschen aus der Stadt und den Dörfern der Umgegend vollgestopft sein. Sie würden selbstgemachte Masken tragen, die Tierköpfe zeigten, das Gesicht des Sommerkönigs oder der Sonnenfrau. Vellardin war ein wildes und ausgelassenes Fest, an dem gerade in den Ländern des Nordens die kalten Nächte des neuen Jahres endgültig vertrieben wurden und man die Kraft des Frühlings begrüßte.
»Ausgerechnet heute!« Enris schüttelte grübelnd den Kopf. »Dann wird es bestimmt noch schwieriger, Königin Tarigh zu sprechen. Wenn es in Menelon an Vellardin genauso zugeht wie in Tyrzar, dann herrscht hier spätestens bei Sonnenuntergang ein Getümmel wie auf einem Schlachtfeld – nur, dass sich die Leute nicht gegenseitig umbringen, sondern sich jemanden fürs Bett erjagen.«
Suvare lachte freudlos auf. Es klang wie ein trockenes Husten. »Na, dann sollten wir uns schleunigst auf den Weg machen. Wenn wir es schaffen, jemanden zu sprechen, der in Menelon das Sagen hat, erzählen wir alles – außer von dem Piraten in unserer Gewalt. Später kommen wir wieder hierher und befragen ihn.«
Enris überlegte, wie schnell sich doch das Rad des Lebens wieder einmal gedreht hatte. Noch vor einigen Tagen war er Larians Laufbursche gewesen. Bestimmt hatte niemand in ihm etwas anderes gesehen als einen dummen jungen Kerl, der gerade aus der Pubertät heraus war, doch ansonsten noch bei jeder Gelegenheit über die eigenen Füße fiel. Aber was war in der kurzen Zeit seitdem
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