Runlandsaga - Wolfzeit
tiefer in den Jackentaschen zu vergraben.
Sie haben Arcads Körper in Segeltuch eingenäht und ihn auf eine Planke gelegt, die an Steuerbord über die Reling ragt. Calach und Garal halten sie im Gleichgewicht. Um die beiden herum haben sich die restlichen Leute aus Suvares Mannschaft und die Flüchtlinge aus Andostaan versammelt. Das graue Morgenlicht verleiht ihren Gesichtern eine wächserne Blässe.
Enris steht neben der Planke mit seiner verhüllten Last. Das Tuch ist so steif, dass sich die Umrisse des darin eingehüllten Toten kaum erkennen lassen. Es sollte alles leichter machen, dass Arcad nicht mehr zu sehen ist, denkt Enris. Da liegt nur eine Hülle, die sie hier in der See versenken, so wie Calach seine Abfälle über Bord wirft. Ein Sack aus Segeltuch, nicht mehr.
Aber es macht nichts leichter, sondern alles nur schlimmer.
Angestrengt atmet Enris die kalte Luft ein und beobachtet aus den Augenwinkeln Themet und Mirka neben sich. Er fragt sich, wie Themet eine weitere Bestattung aufnehmen wird – bestimmt erinnert sie ihn an den brennenden Scheiterhaufen für seine toten Eltern vor wenigen Tagen! Ob er wohl wegläuft? Aber nein, der Junge wirkt ruhig und gefasst.
Suvare bedeutet Enris, einige Worte zu sagen, wie sie es verabredet hatten. Eigentlich wollte er diese Aufgabe ihr – als Khor – überlassen. Aber sie hatte sich geweigert. Letztendlich war er derjenige von ihnen, der Arcad noch am ehesten gekannt hatte.
Eine Windbö fegt über das Deck und zerrt an dem Segeltuch mit Arcads Körper, gerade in dem Moment, als Enris seine Stimme erhebt. Das Gleichgewicht der Planke gerät ins Wanken. Calach und Garal müssen fester zupacken, um sie gerade zu halten.
»Vor ein paar Tagen warst du noch bei uns, Arcad«, sagt Enris laut. »Du hast es uns nicht immer leicht gemacht, dich zu verstehen. Wir haben dich als einen verschlossenen Mann kennengelernt, der sein Wissen immer erst dann mit uns teilte, wenn wir mit dem Rücken zur Wand standen. Aber du wirst deine Gründe dafür gehabt haben, für deine Verschlossenheit wie für dein Misstrauen. Niemand von uns kann auch nur erahnen, wer du wirklich warst.«
Enris senkt den Kopf, bevor er etwas leiser fortfährt: »Eigentlich müsste ein anderer hier an meiner Stelle stehen und Worte finden, die dir gerecht werden. Jemand wie dein Freund Margon, oder noch besser, einer aus deinem Volk. Ein Endar.
Du hast einmal gesagt, auch ihr Endarin würdet den Schmerz des Todes kennen. Auch euch suche er heim. Wenn dem so ist, dann macht uns dies bei all unseren Unterschieden zu Verwandten. Selbst wenn wir niemals wissen werden, was es bedeutet, einer der Erstgeborenen zu sein, in diesem Schmerz werden wir einander gleich.
Ohne deine Entschlossenheit würden wir heute bestimmt nicht hier stehen. Wir danken dir dafür, Erstgeborener, Harfenbauer, Schöpfer von Pallenor, Armelan und Syr, die dir vorausgegangen sind. Mit dir geht ein weiterer Zeuge der Alten Tage.«
Er schweigt für einen Moment. Suvare will schon das Zeichen geben, den Sack mit Arcads Leichnam in die See gleiten zu lassen, da erhebt Enris von Neuem die Stimme: »Ich weiß, dass es dich quälte, nicht zu wissen, was mit euch aus dem Alten Volk geschieht, wenn ihr diese Welt verlasst, und auch darin gleichen wir uns am Ende. Aber ich wünsche dir mit aller Kraft, die ich besitze, dass du die Häuser der Wiedergeburt finden mögest, von denen du gesprochen hast.«
Plötzlich tritt Neria neben ihn, so lautlos, als hätte die Sonne nur ihren Schatten an seine Seite geworfen. Die Klinge ihres Dolches schimmert matt über ihrem nackten Unterarm. Dann tropft Blut auf das Segeltuch, zieht in einem dunklen Streifen an einer Falte des Stoffes entlang.
Mehrere der Anwesenden murmeln überrascht. Enris dagegen fehlen die Worte.
»Was tut sie da?«, stößt Arene laut hervor. Von wem erwartet sie eine Erklärung?
Es ist Neria selbst, die sich zu ihr umdreht und das Wort an sie richtet, und damit auch an die anderen. »So halten wir es bei unserem Volk. Wenn einer von uns stirbt, geben wir ihm etwas von unserem Blut, damit er sich an uns erinnert und die Kraft gewinnt, die nächste Welt zu finden.«
»Wir wollen keine abergläubischen Rituale von Wilden auf diesem Schiff!«, lässt sich Calach hinter Enris vernehmen.
Suvares heisere Stimme bringt ihn, wie auch das entrüstete Gemurmel der anderen, zum Schweigen. »Sei ruhig! Sie hat die Totenwache für den Elfen gehalten, nicht du. Also hat sie auch das
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