Russisches Abendmahl
Nebel und werde vom Strudel mitgerissen. »Ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben«, sage ich.
Valja ist ein von Wind und Wellen gepeitschter Granit. Das Leben hat sich ihr von seiner schlimmsten Seite gezeigt - mit all den schrecklichen Dingen, die durch unsere Albträume kriechen und nichts als kaltes Grauen hinterlassen. Aber im Endeffekt hat sie das nur stärker gemacht. Sie schmiegt sich an mich und drückt ihren Kopf in meine Armbeuge. Wie ein Bausch Zuckerwatte bedeckt das weiße Haar ihr vollkommenes Gesicht.
»Er ist der einzige Mann, der mir mehr Angst macht als du«, sagt sie und zittert.
6
Nach unserem Aufenthalt in St. Petersburg fühlt sich Moskau am nächsten Tag schmutzig an, als hätte jedes Kapitel seiner qualvollen Geschichte eine Schicht von Leidensspuren hinterlassen. Jede einzelne der Millionen von Seelen, die in ihre grauen Mietshäusern gepfercht leben, hat eine Geschichte zu erzählen, von einem Ort, an dem ein Vater verschwand oder eine Tochter entführt wurde, oder von einer Zeit, als gesichtslose Männer in einem schwarzen Volga unschuldige Passanten zu Boden schlugen und davonschleppten. Stalin wütete unerbittlich, allein in dieser Stadt verschwanden Hunderttausende. Und Stalins Nachfolger waren gute Schüler. Noch heute brüllen einem die Schlagzeilen von neu entdeckten Massengräbern entgegen. Ich rufe mir Lipmans Beschreibung der Leda ins Gedächtnis und denke, dass sie genau das ausdrückt. Für jemanden, der diese Dinge fühlt und sieht, ist Moskau durchdrungen vom Œuvre jener Zeit.
Henri Orlans Galerie liegt in einer Wohngegend gegenüber dem Teich des Neujungfrauenklosters. Hoffend, der Ort könne sich aufgrund der Tatsache, dass Sofia hier ihre Gefangenschaft verbrachte, als gutes Omen erweisen, weiche ich Infanteristen mit nacktem Oberkörper aus, die im Park trainieren, und suche nach einem besseren Blick auf den Eingang zur Galerie. Ich bleibe kurz stehen und streichle einen ungepflegten Köter, der sich unter einem Baum räkelt, während ich das Gelände unter die Lupe nehme und so tue, als bewundere ich die rostrot-goldenen Türme und Spitzen des Klosters, die sich im stillen Teich spiegeln.
Eine schlanke Frau in einem wallenden schwarzen Chiffonkleid und einem dazu passenden Pillbox-Hut, unter dem weißes Haar hervorguckt, huscht über die Straße und wird in die Galerie gelassen. In Valjas schwarzer Handtasche befindet sich die Ruger Kaliber 22, ich brauche mir also keine Sorgen um sie zu machen.
Ich sitze auf einer Betonbank und betrachte eine Entenfamilie aus Metall, ein Geschenk der Frau eines amerikanischen Präsidenten. Weil ein paar der Entchen vor einigen Jahren wegen des Metalls gestohlen wurden, werden sie jetzt rund um die Uhr bewacht. Diesmal schaue ich wirklich zu, wie die Schatten der Klostertürme langsam über den Teich wandern und das Vergehen der Zeit anzeigen. Ich frage mich, aus welcher der Öffnungen in den Türmen Sofia Alexejewna die schäumenden Hasstiraden gegen ihren Bruder Peter ausstieß, erst in Richtung Kreml und später ins unerreichbar weit weg gelegene St. Petersburg.
Sofias Name auf dem von Lipman entdeckten Dokument hatte in mir Erinnerungen an Unterrichtsstunden in Russischer Geschichte wachgerufen. Jahre zuvor hatte ich den vergoldeten Doppelthron im Kreml gesehen, den mit dem Loch hinterm Vorhang - ein Loch, durch das Sofia ihrem neunjährigen Bruder die Weisheit einflüsterte. Ein Loch, das es ihr erlaubte, acht Jahre lang ein Imperium zu regieren, ehe Peter alt genug war, es ihr übel zu nehmen. Bevor sie ein Komplott zu seiner Ermordung schmiedete und auf immer ins Neujungfrauenkloster verbannt wurde. Noch im Kloster verschwor sie sich mit anderen Adligen und trachtete ihm nach dem Leben. Die Adligen wurden getötet und baumelten an Bäumen, die Sofia von ihrem steinernen Fenster aus sehen konnte, wo Peter sie Wochen lang hängen ließ, damit der Gestank der Lektion Nachdruck verlieh.
Der Polizist, dessen Aufgabe es ist, weiteren Schaden von den Enten abzuwenden, zieht pünktlich jede Stunde seine Runde, lässt mich jedoch in Ruhe. Die Spätnachmittagssonne wärmt mich. Meine Augenlider sinken.
Ich rieche ihr Parfüm - das Teil ihrer Verkleidung ist, von sich aus würde Valja nie welches tragen -, noch bevor ich sie sehe oder höre. Ein leichter Wind ist aufgezogen und kräuselt die Wasseroberfläche des Teichs. Die Miniaturwellen funkeln im Sonnenlicht.
»Orlan ist kein Homosexueller«, verkündet sie und lässt sich
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