Russisches Abendmahl
neben mir auf die Bank fallen. »Mit seiner großen Brille sieht er aus wie eine Eule, aber Hände hat er wie ein Krake.« Der Hut ist verschwunden. Sie trägt jetzt einen dünnen braunen Regenmantel über dem albernen Kleid.
»Erzähl«, sage ich.
»Er hat Karten für Spartakus im Bolschoi Theater …«
»Komm schon, rede keinen Unsinn.«
Sie schmollt. Ich warte.
»Vielleicht sollte ich mitgehen«, sagt sie.
Ich warte weiter. Ich wünschte, ich hätte sie auf ihre Art ausreden lassen, wie auch immer, einfach um weiterzukommen. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, verabschiedet sich das Funkeln im Teich. Eine Familie geht an uns vorbei. Ich würde gern an dem Eis von dem kleinen Mädchen lecken - Vanille mit Schokoladenüberzug. Sie ist neun oder zehn. Vielleicht neun Jahre jünger als meine Banknachbarin.
»Es tut mir leid«, sage ich.
Valja sieht mich an. Durch die Kontaktlinsen leuchten ihre großen Augen jetzt violett. »Vorausgesetzt, das Bild ist von einem bekannten Künstler, gibt es verschiedene Möglichkeiten, seine Echtheit zu überprüfen.« Offenbar nimmt sie meine Entschuldigung an. »Orlan erwähnte zeitgenössische oder auch spätere Publikationen oder Schriftstücke, in denen vielleicht die Rede davon sei, insbesondere Kataloge einzelner Künstler.«
»Kataloge helfen uns in diesem Fall nicht weiter.«
»Er nahm an, dass ich von einem Künstler einer späteren Periode sprach«, erklärt sie. »Deswegen war das sein erster Gedanke.«
»Da Vincis Dokumente sind weithin bekannt. Lipman behauptet, es seien frühe Skizzen und andere Verweise auf das Gemälde darin enthalten.«
Sie nickt. »Das stimmt. Ich habe ein Buch in der Bibliothek gefunden.«
Sie war gerade mal sechs Jahre zur Schule gegangen, als der Krieg und das Elend im Tschetschenien der späten neunziger Jahre über sie gekommen sind und zu dem gemacht haben, was sie ist. Manchmal aber mache ich einen Witz darüber, dass der beste Ort, um auf sie zu schießen, hochgelegen und mit Blick auf die Stufen ist, die zur Moskauer Staatsbibliothek führen.
»Das Buch ist im Loft«, fährt sie fort. »Darin ist eine Kohlezeichnung abgebildet, die aussieht wie das Gemälde, das du mir beschrieben hast.«
»Das kann uns sicher helfen, aber der Schlüssel liegt in der Faktura aus Fontainebleau.«
Sie kaut an einem weißen Haarkringel und nickt wieder. »Orlans Meinung nach ist das Sinnvollste eine Laboranalyse der Farben und der Leinwand, plus ein Expertengutachten.« Wenn sie die Augen schließt, verschwindet das Violett und ihr Gesicht wird dunkler. Sie zitiert: »Experten analysieren den Stil: Pinselstrich, Farbenskala, das Spiel von hell und dunkel, die Gesamtqualität, die ›Aura der Komposition‹.« Am Ende ahmt sie einen französischen Akzent nach. Ihr tänzelnder Tonfall bringt mich zum Lachen. »Eine Echtheitsbestätigung erfordert außerdem eine Reihe von wissenschaftlichen Tests«, sagt sie und zählt sie auf, während ich an die Leda denke und mich frage, was mir der erste Eindruck bescheren wird.
»Wo finden wir die Experten?«, frage ich, als sie fertig ist.
Wieder werde ich in violetten Schein getaucht. »Kommt auf den Künstler an, Chéri. Und den konnte ich Orlan nicht nennen.«
»Nein. Das konntest du nicht.«
Zurück in meinem Kellerbüro später am Abend verwerfe ich den Gedanken, Jelena Posnowa zu kontaktieren, die Kunsthistorikerin von der Moskauer Universität, die Nigel in der Hysterie nach der Schießerei im National Club erwähnte. Ohne ihr genauere Informationen über das Bild zu geben, werde ich kaum etwas Neues erfahren. Lipmans Referenzen haben sich als richtig erwiesen, bis hin zu der Zeit in Mailand, wo er an der nichtendenwollenden Restaurierung des Abendmahls beteiligt war. Die Leda existiert oder sie existiert nicht. Entweder sie ist echt oder sie ist es nicht. Wenn sie das Werk Leonardo da Vincis ist, ist sie unbezahlbar, und das gleicht das damit verbundene enorme Risiko mehr als aus, beschließe ich.
Nachdem ich meine abendliche Arbeit erledigt habe, tippe ich Maxim Abdullajews Nummer in das Nokia. Ich habe seine Nachricht auf der Mailbox schon zu lange ignoriert. Er geht beim ersten Klingeln dran, als hätte er auf den Anruf gewartet.
»Hier ist Volk«, sage ich.
»Wir müssen reden.«
»Wann?«
»Heute.«
7
Um zwei Uhr morgens sind die Straßen um den Kreml von zusammengekauerten Obdachlosen, Betrunkenen, ein paar Partygängern auf dem
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