Russisches Requiem
zuschreiben würde. Zudem war nach der Entfernung der Statue mit der baldigen Verhaftung von Jeschows Vorgänger zu rechnen, falls sie nicht schon erfolgt war. Und in diesem Fall stand auch eine Säuberung der Organe zu erwarten. Koroljow kannte die Spielregeln inzwischen recht gut. Er konnte zwar eine der besten Aufklärungsquoten der Abteilung vorweisen, aber bei einer Säuberung durfte sich niemand sicher fühlen. In den letzten Jahren hatte er zu viel erlebt, um daran zu zweifeln.
Mit einem Gruß, der eher schon ein Knurren war, betrat Koroljow Zimmer 2F. Er wandte sich den Kleiderhaken auf der Rückseite der Tür zu und fing an, sich aus seinem Wintermantel zu schälen, der ihm unangenehm eng auf den Schultern saß, nachdem er ihn sechs Monate nicht mehr getragen hatte. Der Raum war schlachtschiffgrau gestrichen und mit vier Schreibtischen, je zwei einander gegenüber, und acht Aktenschränken an den Wänden ausgestattet. Es roch nach Männern und Zigaretten, und das durchs Fenster einfallende Licht kämpfte gegen den Rauch an, den die drei hier sitzenden Kriminalbeamten produzierten. Zur Dekoration waren die Wände mit einer Straßenkarte Moskaus und einem Porträt Stalins versehen. Bis zum gestrigen Tag hatte dort auch eine Fotografie von Kommissar Jagoda gehangen, von der jetzt nur noch ein hellerer rechteckiger Fleck zeugte. Kein Wunder, dass alle rauchten, was das Zeug hielt.
Als Koroljow sich endlich seines Mantels entledigt hatte, kam seine selten getragene Uniform zum Vorschein. Er drehte sich um und stellte fest, dass ihn seine Kollegen mit blassen Gesichtern und großen Augen anstarrten. Voller Inbrunst erglühten drei Zigarettenenden. Koroljow zuckte die Achseln und bemerkte, dass auch die Uniform enger war als bei dem letzten Anlass, zu dem er sie angezogen hatte. Er nickte ihnen zu.
»Guten Morgen, Genossen.« Diesmal sprach er die Worte deutlicher aus.
Larinin fasste sich als Erster. »Was ist das für eine Zeit, um zur Arbeit zu erscheinen, Genosse? Es ist schon fast zehn Uhr. Die Partei erwartet etwas anderes. Ich betrachte es als meine Pflicht, dies bei der Betriebsversammlung anzusprechen.«
Larinin sah aus wie ein Schwein, zumindest nach Koroljows Auffassung. Die angeschlagenen und abgebrochenen grauen Zähne, die er zwischen fleischigen Lippen bleckte, erinnerten an die Hauer eines Ebers. Seine Stimme klang heute höher als gewöhnlich, und die plumpen Finger mit der Zigarette bebten leicht. Er ist nervös, dachte Koroljow ohne große Überraschung. Er war stets vorsichtig im Umgang mit dem glatzköpfigen Kriminalbeamten, dessen Bauch sich über den Schreibtisch wölbte wie eine Flutwelle, doch heute musste er besonders auf der Hut sein. Die Hammerschläge, die durchs Treppenhaus hallten, konnten für einen politisch orientierten Mann wie Larinin durchaus das Ende bedeuten. Schließlich hatte der Schreibtisch noch vor kurzem Eisenfaust Mendelejew gehört, und Larinin hatte sich mit der Art, wie er ihn sich angeeignet hatte, keine Freunde gemacht. Mendelejew, ein harter und erfolgreicher Ermittler, war die Geißel der »Banditen« gewesen - wie die organisierten Verbrecher in Moskau genannt wurden -, bis ihn der Verkehrspolizist Larinin wegen Verbreitung antisowjetischer Propaganda denunzierte. Niemand wusste genau, wohin Eisenfaust gebracht worden war. Wahrscheinlich irgendwohin in den tiefen Norden, mit Sicherheit gegen seinen Willen, und alles nur wegen einer blöden Bemerkung über die Tschekisten, die der Verkehrspolizist gehört und für seine Zwecke ausgenutzt hatte. Jetzt saß Larinin zwischen Mendelejews früheren Kollegen und nahm seinen Platz ein, ohne ihm das Wasser reichen zu können. Kein Wunder also, dass Larinin nervös wirkte, wusste er doch selbst am besten, wie schnell der Wind dieser Tage drehen konnte und dass er in den drei Wochen an seinem neuen Arbeitsplatz noch keinen einzigen Fall gelöst hatte. Gewiss keine Leistung, mit der er sich gegenüber seinen Parteifreunden brüsten konnte.
»Ich weiß, wie spät es ist, Grigori Denissowitsch«, antwortete Koroljow. »Ich musste Stabsoberst Gregorin in der Lubjanka aufsuchen. Er hat mich warten lassen. Soll ich Ihnen seine Telefonnummer geben, damit Sie es nachprüfen können?«
Er senkte den Blick und bemerkte, dass sich die Motten im Sommer über den Ärmel seiner Jacke hergemacht hatten. Er rieb über den löchrigen Stoff und setzte sich an seinen Schreibtisch. Nachdem er die Pelzmütze in die unterste Schublade
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