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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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Beweis stellen wirst?«
    Koroljow hatte die gesuchte Akte gefunden und schlug sie auf. Das bleiche, junge Gesicht des Täters mit den dunklen Prellungen starrte ihn aus dem Festnahmefoto an. Kein angenehmer Fall, trotzdem versetzte ihm der Anblick der zerschundenen Züge einen Stich. Koroljow war nicht im Zimmer gewesen, als der junge Kerl zusammengeschlagen wurde, und im Grunde konnte er den Uniformierten, die es getan hatten, nicht einmal einen Vorwurf machen - schließlich hatten sie alle Schwestern und Töchter. Dennoch war es besser, die Bestrafung den Volksgerichten zu überlassen. Sonst wäre alles noch genauso wie vor der Revolution.
    Abgelenkt von dem Bild, achtete er kaum auf Jasimows Worte. Als er aufblickte, stieß er einen stummen, halbamüsierten Fluch aus, denn auch Semjonow und Larinin schienen sich inzwischen für das Spiel erwärmt zu haben.
    »Komm schon, Genosse«, stichelte Jasimow. »Das ist wirklich eine große Ehre. Diese Neuigkeiten wirst du doch deinen Kollegen nicht vorenthalten wollen. Auf welchem Fachgebiet bist du so herausragend, dass ein Stabsoberst dich, einen nicht mehr ganz taufrischen Hauptmann der Moskauer Kriminalmiliz, dazu auserwählt, vor den intelligenten jungen Tschekisten an der Dserschinski-Oberschule der Staatssicherheit zu sprechen? Vor der Elite der sowjetischen Gesellschaft. Mit diesen Knaben kann sich nicht mal unser jugendlicher Held hier messen.« Er nickte in Semjonows Richtung, der gutmütig lächelte.
    Alle drei warteten auf Koroljows Antwort, obwohl sie sie bereits kannten.
    »Aktenverwaltung, du Lump«, knurrte Koroljow, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Die drei Männer brachen in schallendes Gelächter aus.
    »Ein verdienstvolles Thema, Alexei.« Jasimow schien erfreut, dass die alte Ordnung wiederhergestellt war. »Von einem alten Hasen wie dir werden die kleinen Tschekisten bestimmt einiges lernen.«
    »Das hoffe ich, Dimka. Allerdings wundert mich, dass sie dich nicht gebeten haben, eine Vorlesung über Selbstverteidigung zu veranstalten.«
    Jasimow wedelte warnend mit dem Finger in Koroljows Richtung, der selbst am meisten darüber erstaunt war, dass es ihm zweimal an einem Vormittag gelungen war, seinem Freund eins auszuwischen. Semjonow hustete hinter seinem Ordner, und Larinin suchte mit wogenden Schultern etwas in seiner unteren Schublade. Ehe Jasimow zurückschlagen konnte, drang ein lautes Krachen aus dem Treppenhaus. Es klang, als wäre die Statue des früheren Generalkommissars für Staatssicherheit zu Boden gepoltert und trotz der schützenden Decken in mehrere Stücke zerbrochen. In der anschließenden Stille schauten sich die vier an. Der Lärm erinnerte sie und vor allem Larinin daran, dass man seine Zeit für Resultate nutzen sollte, statt sie mit unproduktivem Gelächter zu vergeuden. Bald waren im Zimmer nur noch das Rascheln von Aktenseiten und das Kratzen von sowjetischen Federn auf sowjetischem Papier zu hören. Genosse Stalin beobachtete sie mit Wohlgefallen.
    Koroljow hatte die Angewohnheit, jede Seite einer Fallakte noch einmal zu studieren, ehe sie ins Staatsanwaltsbüro gesandt wurde. Damit vergewisserte er sich zum einen, dass die Akte alles enthielt, was für eine Verurteilung benötigt wurde, zum anderen konnte er auf diese Weise feststellen, ob er im Zuge der Ermittlungen etwas übersehen hatte, das eine schnellere Aufklärung ermöglicht hätte. Diese Übung hatte schon häufig zu interessanten Ergebnissen geführt und war nie eine reine Zeitverschwendung. Manchmal stieß Koroljow dabei auf sich wiederholende Verhaltensmuster, von denen er sich Aufschlüsse für zukünftige Untersuchungen versprach. Während sein Blick am Bild des Studenten Woroschilow hing, fragte sich Koroljow, ob der Vergewaltiger seine Verbrechen je begangen hätte, wenn er in dem kleinen Ort in der Nähe von Smolensk geblieben wäre, in dem er aufgewachsen war. Natürlich hatte er die Neigung mitgebracht, aber wenn man ihn nicht zum Studium nach Moskau geschickt hätte, hätte er vielleicht ein nettes Mädchen geheiratet und einen nützlichen Beitrag zur Gesellschaft geleistet. So aber hatte er nach seiner Aufnahme an einer neuen Moskauer Ingenieurschule die Anonymität im Herzen einer sowjetischen Großstadt entdeckt, in der alles von den Menschen über die Gebäude bis hin zu ganzen Vierteln im Wandel begriffen war. Arbeiter kamen und verschwanden, neue Fabriken wurden eröffnet, überall wurde gebaut. Die Entwicklung Moskaus zu einer

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