Russisches Requiem
Hauptstadt, die der großen sowjetischen Revolution würdig war, hatte Woroschilow die Gelegenheit gegeben, in einem Zeitraum von nur vier Wochen sechs junge Frauen zu vergewaltigen.
Die Zeitungen hatten nicht darüber berichtet, dennoch hatte sich das Gerücht verbreitet. Selbst in guten Zeiten war Moskau ein gefährliches Pflaster, denn lange Arbeitszeiten, knappe Essensrationen und Wodka waren eine explosive Mischung. Aber ein brutaler Vergewaltiger, der immer wieder und in schneller Folge zuschlug, war ungewöhnlich. Frauen vermieden es, nachts allein unterwegs zu sein, vor allem in unbeleuchteten Straßen. Trotzdem fand Woroschilow seine Opfer. Nach der ersten Tat, so erklärte er nach seiner Festnahme, konnte er an nichts anderes mehr denken als an die gewaltsame Inbesitznahme von Frauen. Mit jedem Mal wurden seine Überfälle brutaler, und im Grunde war es purer Zufall, dass niemand gestorben war. Koroljow blätterte um und stieß auf ein Foto von Maria Naumowa mit vier fehlenden Zähnen, gebrochener Nase und dunkel geschwollenen Augen. Natürlich hätte er Woroschilow lieber früher gefasst, doch manchmal konnte man einen Kriminellen nur identifizieren, wenn der Schweinehund weitere Verbrechen beging. Mit schwelendem Zorn hatte sich Koroljow auf die Spur gemacht und aus jeder Tat Hinweise herausgefiltert, die ihm halfen, den Vergewaltiger zu überführen.
Das erste Opfer stammte aus einem Ort keine dreißig Kilometer von dem Dorf, in dem Woroschilow aufgewachsen war. Sie hatte seinen Akzent erkannt. Die zweite Frau prägte sich seine kniehohen Lederstiefel ein. Es war erstaunlich, dass ein Student solches Schuhwerk besaß, dachte Koroljow mit einem Anflug von Neid, als er die Zehen in seinen alten Filz-Walenki bewegte, die vielleicht nicht einmal mehr diesen Winter überdauern würden. Das dritte Mädchen hatte genug vom Gesicht des Vergewaltigers wahrgenommen, um eine Beschreibung von ihm geben zu können, die sich letztlich als sehr genau erwies. Das vierte Opfer, Mascha Naumowa, konnte sich kaum noch an ihren Namen erinnern, nachdem Woroschilow mit ihr fertig war, doch die fünfte Frau hatte ihm heimlich einen Zettel aus der Tasche gezogen, als er sich auf einem Stück Brachland an der Moskwa an ihr verging.
Sie hatte den Zettel in der Faust zusammengerollt und ihn unter sich begraben. Es war eine Vorlesungsliste. Trotzdem brauchten sie einen ganzen Tag, um die Hochschule zu identifizieren, an der er studierte - Zeit genug für Woroschilow, um sein sechstes und letztes Opfer zu überfallen.
Als er in das Wohnheim zurückkehrte, in dem er sich ein kleines Zimmer mit drei anderen Studenten teilte, warteten sie schon auf ihn. Ein junger Bursche wie alle anderen, so war Koroljows Eindruck, wenn man von der Kratzwunde auf seiner Wange absah. Bei der Verhaftung leistete er keinen Widerstand, und als sie ihn in dem schwarzen Polizeiwagen wegschafften, wirkte er eher erleichtert als verängstigt. Die Milizionäre auf dem Revier drehten ihn durch die Mangel und warfen ihn schließlich zu mehreren Banditen in die Wartezelle. Am nächsten Morgen hatte Woroschilow bereits eine Ahnung davon, wie unangenehm zehn Jahre Zwangsarbeit für einen Vergewaltiger werden konnten, wenn er organisierten Kriminellen in die Hände fiel.
Koroljow schloss die Akte und setzte in seiner eleganten Handschrift eine kurze zusammenfassende Notiz auf. Die Schrift eines Priesters, hatte seine Mutter voller Stolz gesagt, ganz benommen von der Aussicht, dass der junge Alexei Aufnahme in die zaristische Bürokratie oder gar in die Kirche finden könnte. Doch dann kam der Weltkrieg, und er hatte sich gemeldet; als die Deutschen und Österreicher besiegt waren, begann der Bürgerkrieg, und er kämpfte gegen die Weiße Armee und schließlich gegen die Polen. Als er endlich wieder heimkehrte, war seine Mutter tot, und in der neuen Sowjetordnung gab es kaum Bürotätigkeiten. Wie hätte seine arme Mutter ahnen sollen, dass nach zwanzig Jahren von dem alten Regime nur noch einige wohlgesittete Vogelscheuchen übrig waren, die sich mit schwer zu findender körperlicher Arbeit über Wasser halten mussten und ihre letzten Habseligkeiten in die Devisenläden trugen, um überhaupt etwas zu essen zu bekommen? Und dass es in einer Stadt, in der einst an jeder Ecke eine Kirche gestanden hatte, nur noch eine Handvoll Gotteshäuser geben würde? Er beendete die Zusammenfassung und nahm einen von den zahlreichen Stempeln, die auf dem Fensterbrett standen.
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