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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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führte. Bald fand Kiy sich auf einer weiten Lichtung. Hohe Gräser wiegten sich leise im Wind. Welchen Weg sollte er nun nehmen?
    Er wartete einige Minuten, bis eine Wolke am Himmel erschien. Daran orientierte er sich. Osten lag also genau vor ihm. Er machte sich wieder auf. Nun gab es keinen Pfad mehr, weder von Menschen noch von Tieren. Kiy hielt verwirrt inne. Sollte er lieber umkehren? Aber was war mit dem Bären? Nein, er wollte nicht aufgeben. Kiy biß die Zähne zusammen und setzte den Weg fort. Manchmal hatte er das Gefühl, er würde beobachtet. Lauerten nicht stumme Gestalten, braune und graue Schatten? Aber obwohl er nach allen Richtungen blickte, konnte er niemanden entdecken. Als er wieder einmal stehenblieb und sich umsah, ob sich etwas bewegte, hörte er plötzlich ein lautes Gekreisch, und als er sich erschrocken umwandte, brach etwas Dunkles aus dem hohen Laubwerk.
    »Baba Jaga!« schrie der Junge entsetzt. Der Gedanke lag nahe. Jedes Kind fürchtete die Hexe Baba Jaga. Es hieß, daß sie auf ihrem Mörser durch die Luft ritt, ihre langen Füße und krallenartigen Hände weit von sich gestreckt, bereit, kleine Jungen und Mädchen zu packen, nach Hause zu schleppen und zu kochen. Kiy starrte wie vom Schrecken gelähmt nach oben.
    Es war jedoch nur ein Vogel gewesen, der bei seinem Flug durch die dichtbelaubten Äste lärmend mit den Flügeln schlug. Doch es war zuviel für den kleinen Kerl. Er brach in Tränen aus, setzte sich auf den Boden und rief wieder und wieder nach seiner Mutter.
    Natürlich hörte sie ihn nicht. Nach und nach beruhigte er sich und hörte auf zu weinen. Es war ja nur ein Vogel gewesen. Was hatte sein Onkel ihm oft gesagt? Der Jäger hat nichts zu fürchten im Wald, wenn er auf der Hut ist. Nur Frauen und Kinder fürchten sich dort. Langsam stand Kiy auf. Zögernd setzte er seinen Weg zwischen den dunklen Bäumen fort. Nach kurzer Zeit bemerkte er, daß zur Linken eine andere Gegend zum Vorschein kam, wo der Wald lichter wurde. Dorthin ging Kiy nun. Es war wärmer, die Bäume wuchsen nicht so hoch. Saftiges Gras gab es und auch Büsche. Er spürte das Sonnenlicht warm auf seinem Gesicht und hörte das Summen der Fliegen. Sein Mut kehrte zurück. Er war so erleichtert, daß er eine Zeitlang nicht aufpaßte, in welche Richtung er ging. Es war genau Mittag. Kiy merkte nicht, daß er hungrig und durstig war und, voller Freude, den dunklen Wäldern entronnen zu sein, auch nicht, wie müde er war. Das Dunkel lag hinter ihm. In der Nähe glänzten Silberbirken in der Sonne auf.
    Plötzlich stand er vor einer niedrigen Wand aus Schilf und sah das helle Licht. Es kam aus dem Boden, aus einem Wurzelgeflecht, so hell, daß Kiy blinzeln mußte. Er trat näher heran. Könnte das, so überlegte er, der Weg in eine andere Welt sein? Warum nicht? Das slawische Wort, mit dem die Leute aus dem Weiler die andere Welt bezeichneten, klang wie »Licht«. Und Kiy wußte, daß der Ort, wo der domovoj und die übrigen Ahnen hausten, irgendwo da unten war.
    Er sah nun, daß das Licht von einem kleinen Fluß kam, auf dem die Sonne glänzte. Er schlängelte sich durchs Unterholz. Kiy kam eine neue, noch aufregendere Idee. Ich habe es erreicht, dachte er. Das ist bestimmt der Anfang des geheimnisvollen Reiches, das Land Weißnichtwo. Wie sonst sollte diese Stelle so voller Zauber sein?
    Kiy folgte dem schmalen Flußlauf. Der Weg führte ihn etwa fünfzig Meter durch dichtes Grün, bis er an zwei niedrige Felsblöcke kam, zwischen denen ein Haselstrauch wuchs. Hier blieb Kiy stehen.
    Plötzlich fühlte er seinen Durst. Er kniete am Fluß nieder und schöpfte das Wasser mit den Händen. Wie herrlich frisch es schmeckte!
    Um einen besseren Überblick zu bekommen, wollte er auf einen der Felsblöcke klettern. Als er nach oben langte, um Halt zu suchen, spürte er eine Schlange unter seiner Hand. Blitzschnell sprang er herunter. Er zitterte am ganzen Körper. Überall um sich herum vermutete er jetzt Schlangen, selbst vor einem Grasbüschel, das über seinen Fuß strich, erschrak er. Doch die Schlange auf dem Felsen hatte sich nicht bewegt. Kiy sah ihren Schwanz am Felsrand liegen. Er wartete, immer noch zitternd, zwei lange Minuten. Als sich nichts rührte, kletterte er auf den Stein. Die Schlange war tot. Sie lag in sich verschlungen am Felsrand. In ihrer ganzen Länge hätte sie die Größe des Jungen um ein Zwei- oder Dreifaches übertroffen. Ihr Kopf war gespalten und ausgehöhlt. Ob das wohl ein Adler

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