Russka
andere dunkelhaarig. Der dunkle Krieger sprach zum anderen, offenbar dem Anführer der Expedition: »Wir sollten das Dorf ausfindig machen.«
Der hellhaarige Reiter blickte auf das Kind, das sein Blutsbruder vor sich auf dem mächtigen Rappen festhielt. Der blasse Junge sah sich ängstlich nach allen Seiten um. Er war ein hübscher kleiner Kerl.
Das Dorf, aus dem der Junge stammte, konnte nicht allzu weit sein. Gegen den sinnlosen Protest der Dorfbewohner würden sie ein paar der jüngeren Männer und Knaben mit sich nehmen. Man würde sie zu Kriegern heranbilden – nicht als Sklaven, sondern als angenommene Mitglieder der Sippe. Zweifellos würde der kleine Junge seiner Sippe eines Tages alle Ehre machen. An diesem heißen Nachmittag jedoch wollte der Mann kein Dorf überfallen. »Ich kam aus einem anderen Grund hierher«, sagte der hellhaarige Reiter leise.
Der Dunkle neigte den Kopf. »Dein Großvater ist nicht alt geworden«, erwiderte er ernst.
Das war das höchste Lob, das die Reiter der Steppe einander aussprechen konnten. Für sie hatte ein alter Mann keine Ehre; tapfere Männer fielen im Kampf, ehe sie alt wurden. Erst kurz zuvor, als die Sonne an jenem Tag den Zenit erreicht hatte, hatte der hellhaarige Krieger auf dem einsamen kurgan in der Steppe gestanden und ein langes Schwert hineingestoßen. Es war das Grab seines Großvaters, der in einem Gefecht gefallen war. Dort steckte das Schwert nun, nur der gekreuzte Griff war von den Wagen aus sichtbar, als leuchtende Erinnerung an eine edle Kriegersippe.
Kiy starrte den Reiter an. Er hatte solche Männer nie zuvor gesehen, aber er hatte von ihnen gehört. Er schloß, daß der Mann auf dem Rappen ein Skythe sein müsse.
»Wenn dich mal ein Skythe fängt«, hatte der Vater ihm eines Tages erzählt, »dann zieht er dir bei lebendigem Leib die Haut ab und macht daraus Zaumzeug für sein Pferd.« Kiy betrachtete ängstlich die Zügel. Sein erster Blick in die kalten Augen des dunklen Kriegers ließ ihn das Schlimmste befürchten, und er nahm an, daß die beiden gerade besprachen, wie sie ihn zerteilen würden. Er zitterte. Doch als er zu dem hellhaarigen Reiter hinsah, schöpfte er ein wenig Hoffnung: Eine so herrliche Gestalt hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen!
Im Gegensatz zu seinem skythischen Blutsbruder trug er das Haar kurz. Sein ebenmäßiges Gesicht war schmal und hatte vornehme, fast zarte Züge. Der Ausdruck war offen und heiter, doch wenn die blaßblauen Augen zornig aufflammten, dann wirkte er furchtbarer noch als der dunkle Skythe. So furchtbar war der Blick der Männer dieses Stammes, daß es mehrere Geschichtsschreiber der Antike vermerkten. Er war nämlich ein Alane, ein Angehöriger des größten Stammes der Sarmaten, eine mächtige, stolze Sippe. Sie nannten sich selbst »die Hellen«, »die Strahlenden«. Seit undenklichen Zeiten waren Reiter von Osten gekommen, aus asiatischen Ländern, die hinter den riesigen Bergketten lagen, die die mächtige Eurasische Ebene nach Süden begrenzte. Über die Pässe von Indien und Persien kamen sie geritten und ergossen sich über das weite Flachland. Aus der Wüste waren sie gekommen, über die Wolga und in die reiche Steppe nördlich des Schwarzen Meeres, in die Gegend des Dnjepr und des Don vorgedrungen. Sie hatten sogar das östliche Mittelmeer und das Balkangebirge oberhalb Griechenlands erreicht.
Zuerst kamen in fernen Zeiten, und zwar in der Eisenzeit, die Kimmerer, ein Reitervolk. Als nächste, um 600 v. Chr. die Skythen, ein indoeuropäischer Volksstamm mit mongolischem Einschlag, die eine iranische Sprache sprachen. Etwa 200 v. Chr. überschwemmte ein weiteres iranisch sprechendes Volk, die Sarmaten, das Land. Sie drängten die Skythen auf ein kleines Gebiet zurück und unterwarfen sie. Sie gaben den Flüssen Don (was »Wasser« bedeutete), Dnjepr und selbst der Donau iranische Namen. Sie waren die Herren der Reiternomaden in der gesamten Steppe. Vom Schwarzen Meer bis zum Waldgürtel fürchteten und bewunderten die Slawen die strahlenden Alanen.
Der Alane sah zum Himmel auf. Bald würden die Männer unter den Wagen ihren Schlaf beenden, es wurde Zeit zum Aufbruch. »Wir kehren heute zurück«, sagte er ruhig. »Du behältst den Jungen.«
Kiy konnte seine Augen nicht von dem großen Krieger wenden. Er trug weiche Lederschuhe und bauschige Seidenhosen. An seiner Seite hingen ein langes Schwert und ein Lasso; ein Dolch, der oben einen Ring hatte, war an seinem Bein befestigt. Sein
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