Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
wohl einen Garten, warten Sie bloß, bis Umgraben und Jäten fällig sind.“
Ich wollte jetzt so gern etwas sagen, wollte etwas in Worte kleiden, das sich in meinem Kopf zusammenballte, und plötzlich war es so furchtbar schwer, in der fremden Sprache die exakten Ausdrücke zu finden. Bis jetzt war es ganz gut gegangen, ich hatte mich ziemlich mühelos unterhalten können - wenn auch nicht so fließend, wie ich es hier wiedergegeben habe. Aber jetzt, wo es darum ging, etwas Wichtiges zu erklären, jetzt fühlte ich mich ganz hilf los.
„Ich verstehe bloß nicht.“, versuchte ich. „Warum soll man nicht glauben, daß es wirklich gute Menschen gibt? Warum soll man gleich den Verdacht haben, hier müßte was dahinterstecken? Wir glauben immer an all das Schlimme und Böse, das wir hören und lesen. Warum sollten wir nicht auch an das Gute glauben? An Menschen, denen es Freude macht, Gutes zu tun? Ich kenne viele Menschen mit der Einstellung.“
„Dann haben Sie Glück“, sagte Frau Segermann. Sie legte sich wieder hin und machte es sich bequem. „Ich bin durch ein ziemlich langes Leben zu oft enttäuscht worden, wenn ich über meine Mitmenschen Gutes dachte. Wann trifft man einen Menschen, der wirklich nur Gutes will, ohne den Hintergedanken zu haben, daß es sich für ihn lohnen wird? Ich kenne ja nicht diese Dame, bei der Sie wohnen werden. Aber ich sage mir, wenn Sie nun dreimal in der Woche so ,kleine Gefallen’ tun müssen, was jedesmal eine Stunde in
Anspruch nimmt - dafür hätte sie einer Putzfrau dreimal sechs Mark zahlen müssen - also pro Monat zweiundsiebzig Mark, das wäre schon die Miete für ein kleines Zimmer so weit außerhalb der Stadt!“ „Und ich bin ganz sicher, daß sie nur ein guter Mensch ist und keine Hintergedanken hat.“ Hoppla! Ich rettete meine Thermosflasche, die noch auf dem Tisch stand und plötzlich ins Rutschen gekommen war.
„Sehen Sie, jetzt fängt es an“, sagte Frau Segermann. „Hören Sie auf meinen Rat, legen Sie sich flach ins Bett!“
Das tat ich. Ich versuchte mich ganz zu entspannen und ließ mich wiegen, hin und zurück, hin und zurück. Ich machte die Augen zu, dachte an einen guten Rat von Senta: „Laß ganz locker, versuche, die Bewegungen des Schiffes mitzumachen - dasselbe gilt für Flugzeuge, übrigens, wenn du verkrampft sitzt oder liegst, als ob du dich gegen das Wiegen wehren willst, wirst du todsicher seekrank!“ Also ließ ich mich wiegen und wurde nicht seekrank.
Ich lag da und dachte an mein Gespräch mit Frau Segermann. Und ich war froh und dankbar, weil ich noch imstande war, an das Gute zu glauben, und an die Tatsache, daß es wirklich unegoistische Menschen auf der Welt gibt.
Einen davon würde ich morgen früh treffen.
Davon war ich überzeugt.
Jede zurückgelegte Seemeile brachte mich näher an diesen Menschen. Näher an all das Neue, das Spannende, das Unbekannte. Näher an all das Gute, woran ich nach wie vor glaubte!
Das Haus am Flüßchen
Schon um sieben war ich wieder auf dem Deck. Der Koffer war fertig gepackt. Nur meine Handtaschen und meine „Hasenbrote“ hatte ich bei mir. Ich kaute und kaute, ach, mein liebes Schwesterherz hatte es zu gut mit mir gemeint und mir viel zuviel mitgegeben!
Es war kühl. Ich hatte eine Strickjacke unter dem Mantel und um den Hals das warme Tuch, das Senta mir geschenkt hatte.
„Und das ist sehr lieb von mir!“ hatte sie bei der Gelegenheit gesagt. „Aber du kriegst es, weil Tante Christiane es so gut kennt. Sie hat es mir geschenkt, weil es rot-blau-weiß ist, das sind nicht nur die norwegischen Farben, sondern auch die von Schleswig-Holstein. Wenn du das Tuch trägst, wird sie dich gleich erkennen. Und du sie auch, guck bloß nach einem Hund, der eine Dame an der Leine führt
- ja, genau das meine ich, es ist Bicky, die die Richtung bestimmt!“
Senta hatte mich wunderbar orientiert. Als wir auf der Kieler Förde waren, erkannte ich sowohl das imposante Ehrenmal in Laboe als auch das Denkmal in Heikendorf. Und da vorn tauchte die große Werft auf, rechts waren die Schleusen, da die Hochbrücke über den Kanal.
Das Schiff bewegte sich langsamer. Vor uns lag die Stadt mit Straßen und Hochhäusern und Türmen. Da unten auf dem Kai viele, viele Menschen.
Ich war eine der ersten, die von Bord gingen, nachdem ich mich von Frau Segermann verabschiedet hatte. Die Zoll- und Paßkontrolle war nur eine Formalität und wurde durchaus nicht allzu ernst genommen.
Kaum war ich durch die
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