S3, Spuk in der Bibliothek: Eine Annäherung an das Unheimliche (German Edition)
Wohnung war es totenstill, ich hörte nur meinen eigenen Atem und durch die Fenster drang gedämpft der Lärm der nahen Hauptstraße.
Wie gingen wieder in den Flur. Das Taschentuch war verschwunden, genau wie vorher. Und genau wie vorher lag es ordentlich zusammengefaltet an seinem Platz in der Schublade. Jetzt war es mir unheimlich, ich wollte nicht mehr in dieser Wohnung übernachten. Obwohl es schon nach elf war, rief ich bei meinen Eltern an und bat um sofortige Abholung. Aber da ich keine überzeugenden Gründe für meinen Wunsch hatte, lehnten sie ab. Die Geschichte mit dem Taschentuch erzählte ich nicht. Wahrscheinlich dachten sie, wir hätten uns gestritten und würden uns auch wieder vertragen.
Pünktlich um zwölf gingen wir ins Bett und kurz darauf kam Olafs Mutter zurück. Ich schlief nicht besonders gut aber es passierte auch nichts mehr, nichts Ungewöhnliches. Zum Glück musste ich nicht aufs Klo. Auf keinen Fall wäre ich nachts alleine in den dunklen Flur gegangen. Auf dem Weg ins Bad hätte ich ja an der Kommode vorbei gemusst. Eher hätte ich aus dem Fenster gepinkelt.
Es war die erste und die letzte Nacht, die ich bei Olaf verbrachte. Er und seine Mutter lebten noch etwa ein halbes Jahr in der alten Wohnung, dann zogen sie wieder um.
Ich überlege, ob ich schreiben soll, was Olaf noch zu der Sache mit dem Taschentuch zu sagen hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob seiner Geschichte zu trauen ist. Vielleicht ist das, was er mir am folgenden Montag in der Schule erzählte, nur Erfindung. Aber gut, ich will seine Geschichte so wiedergeben, wie er sie erzählt hat:
Die Vormieterin war eine alte Frau, deutlich über achtzig. Nur zwei Wochen bevor Olaf und seine Mutter einzogen, fiel diese Frau die Treppe hinunter. Wie gesagt: Die Wohnung lag im zweiten Stock.
Die Frau konnte nach dem schweren Sturz nicht mehr aufstehen und da niemand sonst im Haus war – die einzigen Nachbarn waren im Urlaub und die meisten Wohnungen standen ohnehin leer – hörte niemand ihre Hilferufe. Nach drei Tagen wurde dann ihre Leiche gefunden. Erst behauptete Olaf, die alte Frau sei verdurstet. Als ich das nicht glauben wollte, da änderte er die Todesursache auf Herzinfarkt.
Diese Frau sei es, so Olaf, die die Taschentücher wieder in die Kommode lege. Schließlich gehörte die Kommode ihr und schließlich habe sie die Taschentücher so ordentlich gefaltet. Und wegen dem Tod der Frau sei die Wohnung auch so kurzfristig frei geworden.
Ich weiß bis heute nicht, was ich von dieser Geschichte halten soll. Ich habe leider nie versucht, herauszubekommen, ob tatsächlich eine alte Frau in der Wohnung lebte. Zumindest die Sachen, die im Flur standen, sprechen dafür. Aber ist diese Frau tatsächlich die Treppe hinunter gestürzt und an dem Sturz gestorben? Vielleicht starb sie im Krankenhaus. Vielleicht ist sie überhaupt nicht gestorben sondern nur in ein Altersheim gezogen, in das sie ihre Möbel nicht mitnehmen konnte.
Mir klingt das alles zu sehr nach einer klassischen Gespenstergeschichte: Ein ungewöhnlicher, womöglich qualvoller Tod, eine Tote, die nicht zur Ruhe kommt und in einer sowieso schon etwas unheimlichen Umgebung unheimliche Dinge anstellt.
Ich weiß nur, was ich erlebt habe. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass die Stofftaschentücher, die wir auf den Boden fallen gelassen hatten, auf (für mich) unerklärliche Weise wieder in der Schublade waren. Wer oder was die Taschentücher zurück tat, das kann ich nicht sagen. Ich wünschte, ich hätte damals sorgfältiger nach Komplizen gesucht und nicht nur einen flüchtigen Blick in jedes der Zimmer geworfen. Dann wüsste ich entweder, dass ich hereingelegt wurde. Oder ich wäre mir ganz sicher, dass das eben nicht der Fall war.
Was aber gegen die Verschwörungs-Hypothese spricht: Die Wohnung war alt, alles war alt. Die Holzdielen knarrten, wenn man über sie lief. Die Türen quietschten, wenn man sie öffnete. Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit hätte jemand, der in den Flur gekommen wäre, ein Geräusch verursacht. Aber es war absolut nichts zu hören. Gerade bei unserem zweiten „Versuch“ saßen wir ganz still und ich lauschte angestrengt. Nichts, absolute Stille. Auch der Straßenlärm war nicht so laut, dass er Geräusche in der Wohnung hätte überdecken können. Und trotzdem war das Taschentuch zurück an seinem Platz. Irgendjemand oder Irgendetwas muss das getan haben.
Ich bin nicht abergläubisch und nicht religiös. Ich
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