Saat der Lüge
Nervosität herbeigesehnt hatte. Ich war fürchterlich versessen darauf, jeden zu mögen, dem ich begegnete, und schämte mich für meine Mutter, die übertrieben penibel meine Sachen auspackte, und meinen Vater, der krampfhaft bemüht war, witzig zu sein. Ich war mir ihrer provinziellen Kleidung, ihres Akzents und ihrer umgangssprachlichen Ausdrucksweise, die sie eindeutig als Bewohner der walisischen Täler auswiesen, nur allzu bewusst, und ich schämte mich, dass ich mich für sie schämte in der großen, geschäftigen Stadt.
Anfangs wagte ich kaum, mit Cora zu sprechen. Sie wirkte sehr selbstbewusst und – nun ja – englisch, und dazu auch irgendwie altmodisch in Latzhose und T-Shirt. Aber über Smalltalk mit ihr hätte ich mir keine Sorgen machen müssen. Nachdem wir uns, ächzend und beladen mit schweren Umzugskisten, in die Wohnung geschleppt und dabei Tüten mit Schuhen und Küchenutensilien vor uns hergekickt hatten, sagte Cora einfach: »Hi, ich bin Cordelia, aber meine Freunde nennen mich Cora. Ich bin aus Chester. Das hier ist mein Farn Frankie. Den habe ich, seit ich sechs bin. Ist der nicht herrlich groß? Ich hätte unmöglich ohne ihn von zu Hause weggehen können, aber ich glaube, es wird ihm hier gefallen. Hast du Lust auf eine Tasse Tee? Ich habe einen riesigen Kuchen. Meine Mutter hat ihn gebacken. Sie findet, dass ein Kuchen vorzüglich dazu geeignet ist, das Eis zu brechen, und ich tendiere dazu, ihr recht zu geben.«
Ja, ich weiß: Sie klang oft ein bisschen so, als wäre sie den Seiten eines Internatsschmökers von Enid Blyton entsprungen oder einem Abenteuer der Fünf Freunde. Deshalb mochte ich sie auf Anhieb. Zwei Minuten später braute sie mit ihrer nagelneuen Cafetière, frisch aus dem Zellophanpapier gewickelt, statt Tee Kaffee für alle, schnitt große Stücke von einer klebrigen Schokoladentorte ab, hielt Hof und warb um Freundschaften. Damit war ihr Schicksal besiegelt.
Nach diesem ersten Nachmittag fehlten uns im Umgang miteinander nie wieder die Worte. Schnell, wenngleich zunächst oberflächlich, lernten wir unsere Vorlieben und Abneigungen kennen und erzählten uns gegenseitig in vorsichtigen Portionen von zu Hause und unserer Vergangenheit. Weil wir dabei keine einzige Übereinstimmung entdeckten, hätten wir eigentlich nichts gemeinsam haben dürfen, aber wir waren schließlich unbeschriebene Blätter, und nichts, von dem wir befürchtet hatten, es könnte der anderen etwas ausmachen, war von Bedeutung. Welche Erleichterung. Meine Hoffnungen und Gebete waren erhört worden.
Statt uns nur gegenseitig unsere alten, abgenutzten Geschichten zu erzählen, schrieben wir vom ersten Tag an neue. Das fing am Küchentisch und mit der riesigen Torte an und erstreckte sich schließlich über die ganze Stadt, die wir uns Stück für Stück eroberten, eine urbane Torte aus Beton und Granit und Marmor und Dachziegeln. So schufen wir Tag für Tag, Stunde für Stunde neue Erinnerungen. Und falls wir nicht ganz das waren, was wir zu sein vorgaben – wer hätte es bestreiten können, und wen hätte es gekümmert?
Mike, seit fast einem glückseligen Jahr ihr Freund, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil der Geschichte. Er studierte ebenfalls Englisch, in Swansea, weil er in ihrer Nähe sein wollte, wie sie stolz erzählte, sozusagen als Zeichen seiner Hingabe, nachdem er die Zugangsvoraussetzungen für Cardiff um eine Note verfehlt hatte. Im ersten Semester verschwand sie jedes Wochenende mit dem Überlandbus und besuchte ihn, weil er viele Sportveranstaltungen hatte und es so am einfachsten war. Wann immer es möglich war, bestanden Coras Wochenenden aus Mike.
Ich hörte mir an, wie sie endlos und liebevoll von ihm schwärmte: Michael dies und Michael das, Michael hier und Michael da. Wie aufrichtig verliebt und erwachsen sie schienen. Er schickte ihr seinerseits fast jeden Tag eine Postkarte oder einen Brief. Während an meiner vom Wohnheim gestellten Pinnwand nur ein paar einsame Flyer und hin und wieder ein Foto hingen, war die Pinnwand in ihrem schuhschachtelgroßen Zimmer übersäht mit bunten Beweisen seiner unleugbaren Zuneigung. Manchmal zitierte er bekannte Schriftsteller, manchmal hatte er sogar selbst etwas gedichtet. Cora kam das alles offenbar völlig normal und angemessen vor.
Jeden Abend um acht klingelte unter uns im gekachelten Wohnheimflur, der ständig von trampelnden Schritten und dem Zuschlagen der Brandschutztür widerhallte, das Telefon, und in acht von zehn
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