Saat der Lüge
also in seinem Privatauto hinterhergefahren, fest entschlossen, mich zum Abendessen einzuladen. Aber in der Nähe von Coras Haus hatte ihn der Mut verlassen. Mir schaudert, wenn ich mir überlege, was passiert wäre, wenn ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und mein Vorhaben in die Tat umgesetzt hätte. Es wäre sicher schwierig geworden, mich herauszureden, wenn mich David zum Zeitpunkt von Coras angeblicher Überdosis am Ort des Geschehens gesehen hätte.
Oder wenn er ein besserer Polizist gewesen wäre. Der Ohrring und die Zeitungsausschnitte hatten sich nur wenige Meter von dem Sessel befunden, in dem er mich getröstet hatte, und in der Asservatenkammer der Polizei wartete eine abgetragene Männerlederjacke darauf, entsorgt zu werden. David hatte ihrem Besitzer die Hand geschüttelt, während dessen Frau von den Rettungssanitätern verarztet worden war. Auf dem Foto mit dem orangeroten Kleid trägt er die Jacke sogar.
Während ich mich im halbwegs ordentlichen Zimmer umsehe, wünsche ich mir, dem Mann, dem ich regelmäßig sage, dass ich ihn liebe, die Wahrheit über die Umstände unseres Kennenlernens erzählen zu können. Aber wie soll das gehen? Er weiß nichts von dem Bier und dem billigen Wein, den Romanen und Gedichten und billigen Küssen, geschweige denn von allem anderen. Wie kann er mit einer Frau zusammenleben, die zwar zum Töten bereit war, aber zu faul, die Wahrheit zu sagen? Zu verängstigt, um alleine zu bleiben. Zu verzweifelt, um Nein zu sagen. Schließlich ist er immer noch Polizist, und ich habe einfach nur verdammtes Glück, dass er kein sehr guter ist.
Ob ich straflos davongekommen bin? Ja, bin ich. Mit allem, was ich getan und was ich versäumt habe.
Manchmal, wenn David Frühschicht hat, fällt er um vier Uhr nachmittags ins Bett, erschöpft von der stinkenden Lache menschlicher Existenz, durch die er gewatet ist. Nach seiner Umarmung und dem Kuss und dem müden Lächeln sitze ich also unten im Wohnzimmer und schalte ziellos durch die Kanäle, damit die Schattenmenschen im Fernseher ihre flackernden Silhouetten auf die Wände des Wohnzimmers werfen und ich nicht alleine bin.
Im Winter ist es bereits dunkel, wenn ich meinen gut gemeinten Teller Gemüse beiseiteschiebe und nach dem dritten oder vierten Glas Wein greife. Ich bleibe so lange wie möglich wach und meide die Gestalt, die im Schlafzimmer auf dem Bauch liegt und leise schnarchend auf mich wartet. Weil sie mir meine Enttäuschung bewusst macht. Und die Erinnerung an einen zögerlichen Kuss in der Dunkelheit wachruft.
Unsere Laken und Kopfkissenbezüge waschen wir schon lange nicht mehr selbst, sondern bringen sie in die Reinigung. Ich spüle prinzipiell alle Tassen und Gläser sofort ab, führe einzelne Schuhe ihrem Gegenstück zu, staple Zeitschriften und die Post. Ordnung ist Kontrolle, und Ordentlichkeit ist die Illusion von beidem. Wenn ich dann irgendwann alle Türen abgeschlossen und alle Lichter ausgeknipst habe, weiß ich, wo ich hin muss.
Manchmal stehe ich minutenlang im Türrahmen und betrachte seinen nackten, in die Decke gewickelten Körper, aus der hier ein Bein herauslugt, dort ein Arm entflieht. Im Licht der Straßenlaterne sehe ich einen jungen, gut aussehenden Mann, der auf dem Bauch liegt und schläft. Eine menschliche Gestalt, die ich mein Eigen nennen kann. Oder dem zumindest sehr nahe kommt.
Etwas, das ich nicht beschreiben kann, streckt die Hände nach mir aus und packt mich am Hals, und ich glaube, an dem weißen, heißen Ball zu ersticken, der versucht, mich vom Atmen abzuhalten. Zum Glück sieht er überhaupt nicht aus wie Mike. Irgendwann zwänge ich mich auf meine Seite des Kingsize-Betts und bemühe mich, jeglichen Kontakt mit seinen Gliedmaßen zu meiden. Dort throne ich am Rand des Vergessens und lausche dem gefangenen Atem meines willigen Bettgenossen. Wenn er meine Nähe spürt, schiebt er einen warmen Arm um meine Taille oder schnuppert an meinem Hals, murmelt Halbworte, die von weit her zu kommen scheinen.
Erst dann bin ich froh, dass ich ihn habe, und kämpfe gegen die Tränen.
Aber es gibt auch Momente – wie diesen Samstag, wenn wir bei Cora und Mike zum Grillen eingeladen sind –, in denen alles gut ist. Die beiden wohnen jetzt in einem neuen, größeren Haus. Es ist Mikes dreißigster Geburtstag. Keine große Party, nur ein paar Gläser guten Rot- oder Weißwein, das übliche verkohlte Grillgut und Stevie.
Stevie wird seine neue Freundin mitbringen, die in einem Plattenladen
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