SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Individuen ihre Macht stetig vergrößern wollen. Aber im Westen haben die Institutionen und die Individuen in der Politik viele Jahrzehnte lang daran gearbeitet, ihre Macht loszuwerden, und nur die Konzerne haben die ihre erweitert.
Im Jahr 1982 stellte der Chef des Weltwährungsfonds Jacques de Larosière fest: »In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Vorstellung von der Aufgabe der Regierungen grundlegend geändert. In früheren – einfacheren – Zeiten war die Rolle einer Regierung auf einige wenige, klar definierte Funktionen beschränkt. In jüngerer Zeit wurde diese Rolle erheblich ausgeweitet und umfasst inzwischen a.) die Stabilisierung der Wirtschaft, b.) die Stimulierung des Wachstums, c.) die Umverteilung des Einkommens, d.) die Sicherung von Einkommen und Arbeit, e.) den Erhalt auch von kriselnden und unprofitablen Unternehmen, f.) Versorgung mit bestimmten Gütern und Dienstleistungen zu subventionierten Preisen und g.) Regulierung von tausend anderen Aktivitäten.«
Die Politiker empfinden das offenbar als Last.
Sie wähnen sich in einem Dilemma, dem sie entkommen wollen. Die amerikanischen Politikwissenschaftler Harold und Margaret Sprout hatten darüber im Jahr 1968 einen sehr einflussreichen Aufsatz geschrieben. Er hieß »Das Dilemma der steigenden Ansprüche und der begrenzten Ressourcen«. Die beiden stellten die These auf, dass es in jeder politischen Gemeinschaft in einer gegebenen Periode eine endliche Menge verfügbarer Güter und Dienstleistungen gebe, eine Menge, die sich im Lauf der Zeit üblicher-, aber nicht notwendigerweise erweitert: »Alle diese Gemeinschaften sind durch eine Fülle von wechselseitigen Verpflichtungen gekennzeichnet, sei es auf Verträgen oder Gewohnheit beruhenden, die sich ebenfalls ausdehnen und an Zahl zunehmen. In den meisten Gemeinschaften entsteht ein Bedürfnis nach mehr Gütern und Dienstleistungen. Bestehende Verpflichtungen und neue Bedürfnisse neigen mit wenigen Ausnahmen dazu, die verfügbaren Ressourcen zumeist weit zu überschreiten. Das Dilemma entsteht aus der geradezu chronischen Lücke zwischen Verpflichtungen und Bedürfnissen auf der einen Seite und den verfügbaren Ressourcen auf der anderen Seite.« Was die Politikwissenschaftler sagen wollten: Die Staaten ächzen, weil die Menschen den Hals nicht voll kriegen können.
Es dauert immer eine Weile, bis neue Wirklichkeitsformeln ihren Weg aus der akademischen Welt in die Politik finden. Die Gegenbewegung zum Ausbau des Wohlfahrtsstaats, wie es in den angelsächsischen Ländern heißt, oder der sozialen Marktwirtschaft, wie seine deutsche Variante genannt wird, hatte sich im selben Moment gegründet, da dieser sich anschickte, die westlichen Gesellschaften zu reformieren, am Ende des Zweiten Weltkriegs: Friedrich August von Hayeks berühmtes Buch »Road to Serfdom« war 1944 erschienen. Es dauerte knapp 30 Jahre, bis bei den Eliten die Überzeugung um sich zu greifen begann, dass die westlichen Wirtschaftssysteme sich auf einem Irrweg befänden. Der britische Ökonom und Journalist Andrew Shonfield spürte diesem Stimmungswechsel zu Beginn der Siebziger nach. Er schrieb von einer »Grenze«, jenseits derer die öffentlichen Ausgaben nur dann weiterwachsen könnten, wenn völlig neu darüber verhandelt werde, über welchen Anteil des eigenen Verdienstes ein jeder Bürger eigentlich selbst bestimmen dürfe. Shonfield sagte, sehr viele Staaten des Westens seien dieser Grenze sehr nahe gekommen. Er selbst war ein Labour-Mann, ihn beunruhigte die Entwicklung nicht – im Gegenteil. Er wollte die »mixed economy« im angelsächsischen Raum schützen und erneuern und dabei auch von den Deutschen und ihrer sozialen Marktwirtschaft lernen. Aber andere waren beunruhigt. Sie begannen die wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit, die sie umgab, mit anderen Augen zu sehen.
In der Bundesrepublik kann man den Moment, da die Stimmung kippte, auf den Tag genau datieren: Es war der 9. September 1982. Da legte Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff ein Papier vor, das den Titel trug: »Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit«. Man übertreibt nur milde, wenn man sagt: An diesem Tag erblickte die deutsche Variante des Neoliberalismus das Licht der Welt. Helmut Schmidt nannte das Papier im Bundestag ein »Dokument der Trennung«. Das war ein paar Tage später, am 17. September, als die sozialliberale Koalition zerbrach. Den ganzen
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