SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Sommer hatte Hans-Dietrich Genscher über die »Wende« geredet, die Deutschland brauche. Und dann kam Lambsdorffs Papier. In der großen Debatte, die das Ende seiner Kanzlerschaft – und, wenn man so will, den Anfang vom Ende der deutschen sozialen Marktwirtschaft – besiegelte, sagte Schmidt: »Die Denkschrift will, in der Tat eine Wende, und zwar eine Abwendung vom demokratischen Sozialstaat im Sinne des Art. 20 unseres Grundgesetzes und eine Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft.«
Niemand kann sagen, wir seien nicht gewarnt gewesen.
Das Papier stammte zum Teil aus der Feder von Hans Tietmeyer, damals Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, später Chef der Bundesbank. Wenn man es heute liest, ist man verblüfft: Es war eine Blaupause des wirtschafts- und sozialpolitischen Umbaus, den wir erlebt haben. Ein revolutionäres Papier im eigentlichen Sinne. Es hatte umwälzende Folgen. In sechs dürren Abschnitten wird mit dem bestehenden Wohlfahrtsstaat abgerechnet und die Vision einer anderen Gesellschaft entworfen, die – je nach Standpunkt – eine strahlende oder eine düstere Zukunft verhieß. Denn obwohl das ganze Papier im Zeichen des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit stand, war doch klar, dass es nicht für alle das Gleiche verhieß: nämlich goldene Zeiten für Unternehmer und schlechte für Arbeitnehmer und Gewerkschafter.
Tietmeyer und sein Chef Lambsdorff klagten natürlich über die hohe Staatsquote, über die Steuern, die Abgaben, die tariflichen Regelungen. Aber vor allem diagnostizierten sie eine »Vertrauenskrise«, eine »Skepsis im eigenen Lande«. Das ist wichtig. Es ging hier nicht um ein paar Maßnahmen, ein Erlass hier, ein Gesetz da. Es ging um eine wirkliche Wende.
Das Ziel wird klar benannt: »Inhaltlich muß die Politik vor allem darauf ausgerichtet sein, dem Privatsektor in der Wirtschaft wieder mehr Handlungsraum und eine neue Zukunftsperspektive zu verschaffen. ... Festlegung und Durchsetzung einer überzeugenden marktwirtschaftlichen Politik in allen Bereichen staatlichen Handelns mit einer klaren Absage an Bürokratisierung.«
Es ist wichtig, sich an diesen Moment zu erinnern: In unserer Gegenwart erfährt der Begriff des Staatlichen eine langsame Rehabilitation. Aber damals erlebte die deutsche Gesellschaft gerade den Anfang seiner Erosion. Staat war Bürokratie, und Bürokratie war der Inbegriff allen Übels: Bürokraten sind spießig und langsam und seelenlos und ineffizient und haben keinen Humor. Die freie Wirtschaft ist dagegen wie die weite See, offen und frisch, und wer da etwas unternimmt, der ist ein Kapitän, voll Tatendrang und Mut und Selbstvertrauen.
In dieser Zeit beginnt die Umwertung der Begriffe. Die »Anpassung der sozialen Sicherungssysteme«, von der hier die Rede ist, bedeutet ja nichts anderes als deren Rückbau. Und mehr Raum für »Eigeninitiative« und »Selbstvorsorge« bedeutet nichts anderes als Entsolidarisierung der Gesellschaft.
Bedingung für den Erfolg einer solchen Wende war aber, das nahm das Papier gleich vorweg, dass »die Lohnpolitik auch bei einer solchen Orientierung der staatlichen Politik die notwendige Verbesserung der Ertragsperspektiven sowie die relative Verbilligung des Faktors Arbeit zuläßt«.
Tietmeyer und Lambsdorff sahen »Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften« voraus, »die sich auch negativ auf das Stimmungsbild auswirken können. Die Gewerkschaften selbst müssen jedoch vorrangig an einer Lösung der Beschäftigungsprobleme interessiert sein. Es wird deswegen sehr darauf ankommen, daß Bundesregierung und Bundesbank übereinstimmend die beschäftigungspolitische Mitverantwortung der Tarifparteien deutlich machen. Der notwendige soziale Konsens kann dauerhaft nur gesichert werden, wenn die Arbeitslosigkeit konzentriert und nachhaltig bekämpft wird.« Das war die Leitlinie: Die Politik des Sozialabbaus sollte als Politik gegen die Arbeitslosigkeit verkauft werden, damit die Gewerkschaften stillhielten.
Der Politologe Christoph Butterwege hat angesichts dieses Papiers die Frage gestellt, »ob es sich dabei nicht um das Drehbuch für die Regierungspolitik bis heute handelte. So sehr entsprechen zahlreiche Maßnahmen, die seither ergriffen wurden, dem dort niedergelegten Forderungskatalog.« 11 Die Antwort liegt auf der Hand. Es gehört zu den traurigen Kuriositäten der deutschen Politik, dass es einer rot-grünen Regierung vorbehalten war, den neoliberalen Geist, der hier beschworen wurde, vollends aus
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