SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Deutschland mehr und mehr prägt. Das wäre ihr größter Vorteil. Sie wäre ein Stück Gerechtigkeit. Denn das deutsche Steuersystem ist ungerecht. Warum sind auf Kapitalerträge so viel weniger Steuern zu zahlen als auf Einkommen aus Arbeit? Warum lässt die Erbschaftssteuer Schlupflöcher so groß wie Scheunentore? Warum richtet sich die Grundsteuer nicht nach dem echten Wert einer Immobilie?
Als Frankreichs sozialistischer Präsident François Hollande eine zusätzliche Steuer in Höhe von 75 Prozent ab einem Jahreseinkommen von einer Million Euro einführen wollte, haben die Deutschen nur den Kopf geschüttelt. Sie haben den symbolischen Wert dieser Forderung nicht verstanden. Es geht um das Geld, das dem Staat fehlt. Vor allem aber geht es um die Gerechtigkeit. Die ist beinahe wichtiger als das Geld.
Eine Zwangsanleihe wäre ein Zeichen der Solidarität – und zwar der Solidarität der Vermögenden mit dem Volk. Denn die Kosten der Krise sollten auf den starken Schultern schwerer wiegen als auf den schwachen.
Aber Deutschland ist ein konservatives Land. Die Eliten, was man im Jargon einer vergangenen Epoche die »herrschende Klasse« nannte, werden hier in Ruhe gelassen. Der Staat will ihnen gar nicht so dicht auf den Leib rücken.
Wir haben das im Fall Schlecker gesehen. Da wurden im Jahr 2012 auf einen Schlag 11.000 Mitarbeiter, die meisten von ihnen Frauen, arbeitslos. Die Drogeriekette Schlecker war von ihrem Gründer und Eigentümer Anton Schlecker in den Ruin getrieben worden. Wir hatten oben gesagt: Man muss gar nicht klären, was Gerechtigkeit ist. Es genügt, wenn wir erkennen, was Ungerechtigkeit ist. Hier ist ein Beispiel. Wenn jemand ohne Schuld seine Arbeit verliert, ist das eine Ungerechtigkeit. Wenn dieses Schicksal 11.000 Menschen auf einen Schlag trifft, und dazu ihre Familien, ihre Kinder, dann ist das eine große Ungerechtigkeit. Als jedoch ein Politiker diesen Frauen noch hinterherrief, sie sollten sich schleunigst um eine »Anschlussverwendung« kümmern, da hatten diese Frauen zum Schaden den Spott dazu. Die Ungerechtigkeit wurde zur Sauerei. Philipp Rösler hat diese Formulierung benutzt, der Chef der FDP.
Das Gesetz hatte es Anton Schlecker erlaubt, einen Konzern mit 36.000 Mitarbeitern und 6,5 Milliarden Euro Umsatz nach den gleichen Regeln zu führen, nach denen üblicherweise ein Zeitungskiosk geführt wird. Anton Schlecker stand im Handelsregister einfach als eingetragener Kaufmann. Er brauchte keinen Aufsichtsrat, er musste keine Zahlen offenlegen, und einen Insolvenzantrag musste er auch nicht stellen. Nachdem die Drogeriekette Pleite gemacht hatte, fragte die Links-Partei das alles noch einmal bei der Bundesregierung nach. Um sicherzugehen, dass man nichts falsch verstanden hatte. Und es wurde bestätigt: Nur juristische Personen unterliegen der Insolvenzpflicht, wenn sie zahlungsunfähig sind, natürliche Personen können machen, was sie wollen.
Das ist nur ein Fall. Ein Beispiel für das Versagen der Ordnungspolitik. Man muss nicht einmal den Bankensektor bemühen, um dieses Versagen zu dokumentieren. Auch Anton Schlecker durfte alles mit sich in den Abgrund ziehen, so wie die Banken mit lebensgefährlichen Finanzprodukten hantieren durften. Beide, Schlecker und die Banken, begaben sich da in eine Verantwortung, die sie nicht tragen konnten: Verantwortung für das Gemeinwesen. Und das Gemeinwesen trägt bekanntlich am Ende die Kosten.
Der Fall der 11.000 Schlecker-Mitarbeiter war so krass, dass er an eine Idee von Gerechtigkeit erinnerte, die in Vergessenheit zu geraten droht. Was meint man, wenn man vom »Sozialen Abbau« spricht? In Wahrheit nichts anderes als eine moralische Degenerierung. Es ist, als degenerierten mit dem Lebensstandard der Armen die moralischen Maßstäbe der Reichen. Die große Umverteilung, die wir seit vielen Jahren erleben, bezieht sich nicht nur auf Geld. Nicht nur die materiellen Werte werden von unten nach oben verteilt, sondern auch die moralische Wertigkeit. Dass Schlecker in einer Sauerei endete, war ein politisches Problem, kein wirtschaftliches. Der Unterschied ist wichtig. Schlecker und das Schicksal der Schlecker-Leute waren kein Fall für den Taschenrechner, sondern für das Gesetzbuch.
Wenn der Staat sich in der Wirtschaft passiv verhält, hat das wenig mit Vernunft, aber sehr viel mit Ideologie zu tun. Wenn sie das Wort vom Fünfjahresplan hören, denken die Deutschen an die DDR und winken ab. Aber nicht weniger, sondern mehr
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