SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
der Flasche gelassen zu haben: Von den Steuersenkungen bis hin zur Reduktion des Arbeitslosengeldes hat Rot-Grün zu Beginn des neuen Jahrhunderts viele der neoliberalen Visionen wahr werden lassen, von denen das Lambsdorff-Tietmeyer-Papier geträumt hatte.
Nach der Bankenkrise hat der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz gesagt, der Fall der Wall Street sei für den Markt-Fundamentalismus das gewesen, was der Fall der Mauer für den Kommunismus war: »Er zeigt, dass der Weg dieser Wirtschaftsordnung nicht gangbar ist.« Haben das alle mitbekommen? Der Kommunismus ist mausetot. Aber der Markt-Fundamentalismus hat sich von seinem Treppensturz im Jahr 2008 erstaunlich schnell erholt. Seine Ersthelfer muss man nicht nur in New York oder London suchen. Sie sitzen auch im Bundeskanzleramt,Willy-Brandt-Straße 1.
Angela Merkel hat von Beginn ihrer Amtszeit an ihren Ruf als Pragmatikerin gepflegt. Aber hinter dem Pragmatismus verbarg sich immer eine handfeste wirtschaftspolitische Ideologie. Sie versteckt sich in den Begriffen. Es gibt kein Wort, in dem sich das besser enthüllt, als das Wort von der »Schuldenkrise«.
Dieses Wort hat sich durchgesetzt. Das ist ein Zeichen für den fortgeschrittenen Grad an Manipulation, der die Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Wenn einer Schulden hat, so klingt das, dann hat er zu viel Geld ausgegeben und muss sparen. Andersherum wird ein Schuh draus: Wir haben ein Einnahmeproblem, kein Ausgabenproblem. Deutschland gibt nicht zu viel Geld aus. Es nimmt zu wenig Geld ein. Die Arbeiter und Angestellten, deren Einkommen seit Jahren stagnieren, haben keineswegs über ihre Verhältnisse gelebt. Es sind die anderen, die ihre Verhältnisse beständig verbessert haben. In den vergangenen 20 Jahren sind die Geldvermögen von 1,9 Billionen auf 4,8 Billionen Euro gestiegen und die Staatsschulden von 600 Milliarden Euro auf zwei Billionen Euro. Die Schulden des Staates sind die Vermögen der Reichen. Die Steuerpolitik ein Skandal: Die Vermögenssteuer wurde abgeschafft und die Unternehmens- und Erbschaftssteuern wurden gesenkt, und der Spitzensteuersatz war niemals niedriger als heute.
Es ist nicht verwunderlich, dass Angela Merkel Politik für Reiche machte. Sie hatte für ihre Klientelpolitik die beste Tarnung gefunden, die sich denken lässt: Pragmatismus. Wenn man den Menschen oft genug sagt, das eigene Handeln sei ohne Alternative, dann vergessen die Menschen, dass sich dahinter vor allem Interessen verbergen.
Da mochte Griechenland unter den sogenannten Reformen stöhnen und zerbrechen und die Krise sich immer weiter zuspitzen. Und da konnte kommen, wer will, von der klugen Währungsfonds-Chefin Christine Lagarde bis zum nüchternen Italiener Mario Monti, und versuchen, der deutschen Zuchtmeisterin zu erklären, dass die Haushalte von Staaten zwar so heißen, mit den Rechenkünsten von Hausfrauen aber nicht zu sanieren sind. Die Pastorentochter Merkel blieb unbeirrt in ihrem Glauben: Schulden kommen von Schuld und verlangen nach Opfern. Dass solcher Schuldenkapitalismus mehr mit Religion zu tun hat als mit Ökonomie, kommt im englischen Wort »redeem« noch besser zur Geltung: ablösen und erlösen. Merkel zeigt, dass auch Pragmatiker Fundamentalisten sein können und dass es ein gefährliches Eiferertum der Vernunft gibt. Merkel, so viel ist sicher, ist keine konservative Kanzlerin. Sie ist eine Radikale.
Denn die Schulden sind nicht die Ursache der europäischen Probleme. Die irischen und spanischen Schuldenquoten lagen noch im Jahr 2007 weit unter den deutschen. Europa leidet nicht unter einer Schuldenkrise – sondern unter einer Institutionenkrise. Die Finanzmärkte sind nicht ausreichend reguliert. Es gibt keine gemeinsame europäische Steuer- und Wirtschaftspolitik. Und im Süden des Kontinents haben die öffentlichen Institutionen versagt. Die Griechen haben toten Rentnern Milliardenbeträge überwiesen. Sie haben die Kontrolle verloren.
Die Antwort müsste also in einer Stärkung der Institutionen liegen: Europa bräuchte ein entscheidungsfähiges europäisches Parlament und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, die das Gegenstück zur gemeinsamen Währung sein muss. Europa braucht mehr Politik, weniger Markt. Es heißt, ein Übermaß an Ausgaben sei das Problem, während es in Wahrheit in einem Mangel an Steuerung liegt.
Da die Schulden nicht das Übel sind, ist das Sparen auch nicht die Lösung. Es ist erst einmal gegen das Sparen ja nichts einzuwenden. Es kommt
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