SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Raunen, das durch die Menge ging? Die letzte echte Beunruhigung? Das war im Jahr 2003 der Streik der IG Metall in Ostdeutschland und ein Jahr später die Protestwelle gegen die sogenannten Hartz-IV-Reformen. Diese kurzen zwei Jahre, in denen es eine lebendige Opposition gegen den Umbau des westdeutschen Sozialsystems gab, sind schnell in Vergessenheit geraten. Die Ereignisse dieser beiden Sommer spielen heute keine Rolle mehr. Dabei war vor allem der Streik und sein Scheitern ein Wendepunkt. Und vielleicht ist das Vergessen, das sich darübergelegt hat, ein Zeichen dafür, wie vollkommen diese Wende vollzogen wurde.
Am 28. Juni 2003 gab der damalige IG-Metall-Chef Klaus Zwickel bekannt, dass die Verhandlungen für die Einführung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland gescheitert waren. Vier Wochen lang hatte der Streik der IG Metall gedauert und endete schließlich ohne Ergebnis. Er wurde einfach abgebrochen. Das hatte es seit 1954 nicht gegeben. Aber damals war es nur um eine Lappalie in Bayern gegangen. In diesem Sommer jedoch war vor den Augen des ganzen Landes die einst mächtige und gefürchtete IG Metall mit ihrer zentralen, identitätsstiftenden Forderung nach der 35-Stunden-Woche gescheitert. Man muss sich das noch einmal vor Augen führen. Denn soziale Utopie, das war über 100 Jahre lang eine Utopie der Arbeitswelt. »Weil die Form dieser abstrakten Arbeit eine derart prägende, alle Bereiche penetrierende Kraft entfaltet hat, konnten sich auch die utopischen Erwartungen auf die Produktionssphäre richten, kurz: auf eine Emanzipation der Arbeit von Fremdbestimmung«, hat Jürgen Habermas geschrieben. Es ging immer um die Arbeit, und das angenommene Subjekt der Revolution war immer die Arbeiterklasse. Arbeitsbedingungen, Arbeitslohn, Arbeitszeit – darum drehte sich der ganze Reigen der Resolutionen und Revolten.
Der Streik der IG Metall war ein Desaster. Es war vielleicht das Ende der herkömmlichen Arbeiterbewegung in Deutschland. Jetzt wurde offenbar, dass die alte arbeitsgesellschaftliche Utopie des organisierten Klassenkampfes endgültig ihre Strahlkraft eingebüßt hatte. Schon zuvor mochte man den Zustand der Arbeiterbewegung nicht als gut bezeichnen. Aber diese Niederlage gab ihr den Rest. Nicht einmal 10.000 Arbeiter hatten vier Wochen im Osten des Landes gestreikt, und in dieser kurzen Zeit war die Machtlosigkeit der Gewerkschaften enthüllt worden, ihre Mitgliederschaft gespalten und die Öffentlichkeit entfremdet. In England war es Mitte der achtziger Jahre das Scheitern eines landlähmenden Streiks von 130.000 Bergarbeitern gewesen, der immerhin ein volles Jahr gedauert hatte, an dem die Gewerkschaftsbewegung zugrunde gegangen war. In Deutschland brauchte es dafür offenbar weniger Aufwand. Jenseits des Kanals war die alte Arbeiterbewegung mit einem Knall untergegangen, bei uns mit einem Wimmern. Das lag auch an der Rolle der Medien. Wann war überhaupt jemals eine Aktion einer Gewerkschaft in Deutschland auf so einhellige Ablehnung gestoßen?
Im März 2003 hatte Gerhard Schröder in einer berühmt gewordenen Regierungserklärung seine sogenannte Agenda 2010 verkündet. »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. ... Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende Veränderungen.« Das große Umsteuern hatte begonnen, der Kurswechsel, die Vollendung der neoliberalen Wende, die unter Kohl nur angekündigt worden war. Die Gewerkschaften, noch nicht gebrochen, spürten die Gefahr. Im Frühjahr brachen in Baden-Württemberg erste Tarifauseinandersetzungen auf. Es ging um mehr Lohn, aber vor allem ging es um eine besorgniserregende Entwicklung: die Zunahme der Leiharbeit. Sie gefährdete den Einfluss der Gewerkschaften und überhaupt die organisierte Vertretung der Interessen von Arbeitnehmern. Die Gewerkschaften forderten darum, dass die Betriebsräte ein Recht auf Mitsprache bei der Einstellung von Leiharbeitskräften haben sollten: »Wir wollen, dass die Menschen in ihren Betrieben fest verankert sind mit Rechten und Pflichten für beide Seiten«, sagte ein IG-Metall-Funktionär damals. Aber das waren Worte aus einer alten Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat – und vor allem das Kämpfen. Auf beides
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