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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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konnten die Gewerkschaften nicht mehr zählen.
    Der große Streik von 2003, war das ein Streik der Verzweiflung oder einer der Selbstüberschätzung? Die Arbeitslosigkeit hatte im Vorjahr bei 10,8 Prozent gelegen. Das war der gesamtdeutsche Durchschnitt der Lohnabhängigen. Im Osten, wo die IG Metall ihren Arbeitskampf ausfechten wollte, lag die Quote nahe bei 20 Prozent. Die IG Metall setzte zunächst in Sachsen an und dehnte den Arbeitskampf dann auf Ostberlin und Brandenburg aus. 13 Jahre nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wollte die Gewerkschaft eine Gerechtigkeitslücke schließen. Die Arbeitszeit der 310.000 Beschäftigten in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie sollte schrittweise von 38 Stunden auf 35 gebracht werden, auf das Niveau der Kollegen im Westen. Was in der Stahlindustrie noch möglich war – eine Vereinbarung mit den Arbeitgebern, dass die Arbeitszeit im Osten bis 2009 auf das Westniveau sinken sollte –, schlossen die Arbeitgeber der Metallbranche aus. Und dabei blieben sie einfach. Damit hatte die IG Metall nicht gerechnet – und auch nicht mit dem Widerstand, auf den der Streik in der Öffentlichkeit treffen würde.
    Der »Spiegel« nannte den Streik »absurd und gefährlich«, die »Süddeutsche« sprach von »Irrsinn«, das »Handelsblatt« von »Anmaßung« und die »Zeit« von »Machtspielen zum falschen Zeitpunkt«. Das Bild der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit war vollkommen gekippt – und in der IG Metall hatte man das nicht mitbekommen.
    Nachher, als schon alles zu spät war, sagte der zweite Gewerkschaftschef Jürgen Peters: »Manche Dinge schätzten wir völlig falsch ein, vor allem die Stimmung in der Bevölkerung. Wir dachten, eine 78-prozentige Streik-Zustimmung der IG-Metaller ist auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Pustekuchen! Wir lagen völlig daneben.« In der Tat, die Gewerkschaften galten als Blockierer: Ladenschluss, Agenda 2010, Hartz IV – zu allen sogenannten Reformen hatten die Gewerkschaften nein gesagt. Sie hatten damit ihre Aufgabe erfüllt, sich um die Interessen der Arbeitnehmer zu kümmern. Das Problem war nur: Die Arbeitnehmer selber definierten ihre Interessen inzwischen anders. Arbeitszeitverkürzung im Osten? Im Juni veröffentlichte der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) eine Umfrage, nach der 70 Prozent der Befragten bereit wären, für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes auch länger als bisher zu arbeiten. Der MDR sorgte auch für eine Umfrage, nach der ebenfalls 70 Prozent der Auffassung seien, der Streik schade dem Wirtschaftsstandort Ostdeutschland. Es kommt eben immer darauf an, wie man fragt.
    Das Allensbacher Institut für Demoskopie fand damals heraus, dass nur noch 14 Prozent der Befragten den Gewerkschaften eine Rolle als »Reformmotor« zutrauten. »In der Bevölkerung herrscht inzwischen ein Bild von den Gewerkschaften als machtvollen Institutionen vor, die sich mehr der Vergangenheit verpflichtet fühlen als der Gegenwart oder der Zukunft«, fasste die Allensbach-Forscherin Renate Köcher die Ergebnisse zusammen. Und beinahe die Hälfte der Bevölkerung sei davon überzeugt, dass es der offiziellen Vertretung der Arbeitnehmerschaft nur noch um eigene Interessen ging.
    Aber Manipulation muss man den Umfragen oder ihren Auftraggebern hier nicht mal vorwerfen: Sehr wahrscheinlich ist es, dass die Leute vom anschwellenden Bocksgesang des Neoliberalismus in Medien und Politik längst entsprechend instruiert waren und von ganz allein den Gewerkschaften, die dachten, im Interesse der Werktätigen zu handeln, eine Absage erteilten. Richtig schlimm wurde es, als die IG Metall ein Werk in Brandenburg bestreiken ließ, in dem Getriebe für deutsche Autos hergestellt wurden.
    Die Automobilindustrie hat sich daran gewöhnt, dass ihre Zahnräder besonders eng ineinandergreifen. Lagerhaltung gibt es kaum noch. Wenn es irgendwo in der Produktionskette zu Reibungsverlusten kommt, gerät das ganze Räderwerk schnell ins Stocken. Es dauerte nur ein paar Tage, und bei BMW in Bayern standen die Bänder still: Materialmangel. Nicht ganz 10.000 Streikende im Osten bedrohten annähernd 60.000 Beschäftigte im Westen mit Kurzarbeit. Die IG Metall hatte gedacht, wenn sie den Hebel auch im Westen anlegt, würde dessen Wirkung umso größer. So war es auch: Aber der Hebel flog der Gewerkschaft ins Gesicht. Der Westen verhielt sich nämlich nicht solidarisch mit den streikenden Kollegen im Osten. Im Gegenteil. Die Kollegen im Westen

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