SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
wäre man froh, wenn ein paar Bürger mal so richtig ausrasten und sich an irgendwelchen Fahrradständern anketten würden.
Den neuen deutschen Protestlern wurde vorgeworfen, dass sie nicht wegen der Finanzkrise auf die Straße gegangen waren, nicht wegen der Europapolitik oder Afghanistan oder sonst eines weltbewegenden Themas. Sondern dass sie tatsächlich von Angelegenheiten mobilisiert worden waren, die sie direkt angingen: Schulreformen, öffentliche Bauten, Fluglärm. Das war eine sonderbare Kritik. Und ihr lag ein sonderbares Verständnis von Demokratie, von Partizipation, ja von Öffentlichkeit überhaupt zugrunde. »Think globally, act locally«, erst bringt man den Leuten jahrzehntelang bei, dass sie global denken und lokal handeln sollen, weil das der einzig sinnvolle und befriedigende Weg der Partizipation sei – und wenn sie es dann wörtlich nehmen und sich daran halten, macht man ihnen den Vorwurf, nicht über ihren Tellerrand hinauszublicken. Der Göttinger Politologe Franz Walter und seine Mitarbeiter haben in ihrer Studie über die neuen Protestbewegungen übrigens herausgefunden, dass durchaus nicht jeder Bürger, der gegen eine Stromtrasse demonstriert, unter so einer Leitung leben würde. Die Leute sorgen sich um ihre Heimat. Und zwar in einem ganz unspektakulären Sinn des Wortes: »Heimat ist für sie etwas erstaunlich Unmittelbares. Heimat ist dort, wo man sich jetzt gerade wohlfühlt, ausschließlich ein gegenwärtiger, kein historischer Ort. Heimat ist, wo die Familie lebt, was für die Enkel erhalten werden soll.«
Verantwortung kann man nur für das übernehmen, auf das man auch Einfluss hat. Das ist eine Binsenwahrheit und eine Lehre aus der Geschichte der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die die neuen Protestbürger besser verstanden haben als manche ihrer Kritiker in Zeitungen, Parteien und Verwaltungen. Aber ausgerechnet der Politgreis Heiner Geißler, der in der Stuttgarter Klemme als Mediator angeheuert worden war, der hatte begriffen, dass hier eine neue Qualität politischer Partizipation entstanden war.
Nachdem sich eine Mehrheit in einem Volksentscheid für das Bahnhofsprojekt ausgesprochen hatte, schrieb Geißler einen klugen Text in der »Süddeutschen Zeitung«:
» Aber man könnte auch ins Träumen kommen und sich zurückversetzen ins Jahr 1995. Vier Leute – ein Ministerpräsident, ein Bundesverkehrsminister, der Chef der Deutschen Bahn, ein Oberbürgermeister – fliegen im Hubschrauber über das 120 Hektar große, von Bad Cannstatt bis Stuttgart-Mitte reichende Gleisvorfeld des Haupt- und Sackbahnhofs und fassen einen kühnen und genialen Plan. Um die Gleise verschwinden zu lassen und Stuttgart in der Mitte neu zu erfinden, wird der Bahnhof um 90 Grad gedreht, acht Meter tiefer gelegt und in einen Durchgangsbahnhof in der Mitte einer ICE-Schnellstrecke Mannheim-Ulm-München inklusive Stuttgarter Flughafen verwandelt. Das Konzept wird der Öffentlichkeit vorgestellt. Es beginnt eine öffentliche Diskussion mit einer völlig neuen Form der Bürgerbeteiligung, einem gleichberechtigten Forum aus Projektbefürwortern und Projektgegnern, Ministerpräsident und Bahn-Chef an einem Tisch mit Grünen und Vertretern der Zivilgesellschaft mit totaler Transparenz an allen Sitzungstagen, übertragen vom Fernsehen, alle Positionen nachzuverfolgen im Internet. Es geht um Alternativen, zum Beispiel um einen Kombi-Bahnhof wie in Zürich oder die Trassierung durch das Fils- und Neckartal, um die Offenlegung der Kosten, begleitet von Informations- und Diskussionsveranstaltungen im ganzen Land und empfehlenden Voten der Parlamente.
Dann erfolgt eine Volksabstimmung. Der Bahnhof, der eine Mehrheit bekommen hat, wird gebaut. Wegen der vorausgegangenen ausführlichen Information und der demokratischen Entscheidung des Volkes gibt es keine wesentlichen Proteste und Einsprüche mehr, der Bahnhof wird zehn Jahre später im Jahre 2008 eingeweiht und in Betrieb genommen. Nach diesem Verfahren haben die Schweizer den Gotthard-Tunnel gebaut. So hätte es auch in Stuttgart kommen können. Leider ist dies nur ein Traum. Real war nur der geniale Plan 1995. Aber in Stuttgart ist es halt so gelaufen, wie es in Deutschland funktioniert: elitäre politische und ökonomische Entscheidungen, Großdemonstrationen und Konfrontationen mit der Polizei, mehr als hundert Verletzte, zwei von ihnen Schwerverletzte, von denen einer erblindete. « 17
Geißler, der nichts mehr zu verlieren und kaum noch
Weitere Kostenlose Bücher