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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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kochten vor Wut. Erich Klemm, Chef des Daimler-Betriebsrats, des wahrscheinlich wichtigsten Betriebsrats in Deutschland, nannte IG-Metall-Chef Peters öffentlich einen »tarifpolitischen Geisterfahrer«.
    10.000 BMW-Mitarbeiter wurden in die Kurzarbeit geschickt. Die Bundesanstalt für Arbeit gab bekannt, dass daraus Kosten in Höhe von rund 1,7 Millionen Euro entstehen würden. BMW selber verkündete, weitere 900.000 Euro an Sozialversicherungsbeiträgen zahlen zu müssen. Außerdem wurde im Detail vorgerechnet, dass BMW durch den Streik in Brandenburg ein Umsatzminus in Höhe von rund 38 Millionen Euro pro Tag zu verkraften hatte.
    Und so trat der für eine Gewerkschaft schlimmste denkbare Fall ein: Die Öffentlichkeit – und auch Betriebsräte und BMW-Arbeiter gehören zur Öffentlichkeit – bezog nicht Position für die streikenden Arbeiter, sondern für die bestreikten Betriebe.
    Als es im Jahr darauf zu den großen landesweiten Protesten gegen Hartz IV kam, zeigten die Gewerkschaften, dass auch sie gelernt hatten. In Berlin und Leipzig fanden sich Zehntausende zu sogenannten Montagsdemonstrationen zusammen. Der Name war kein Zufall, sondern sollte an den friedlichen Protest gegen das DDR-Regime erinnern. Aber ausgerechnet der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes Michael Sommer sah die Proteste weniger in den Kategorien der demokratischen Tradition als vielmehr in denen der Bedrohung: »Wir alle haben große Sorgen, dass in einzelnen Städten von extremen politischen Kräften versucht wird, die Demonstrationen zu unterwandern.« Man müsse aufpassen, dass die Montagsdemonstrationen »nicht in die Hände von Feinden unserer Demokratie« fielen.
    Der Mann musste sich nicht sorgen. Es ist nichts geschehen. Die Leute haben einfach irgendwann aufgehört zu demonstrieren. Ein paar haben weitergemacht und sind immer noch dabei. In Hamburg oder Bottrop. Jeden Montag, manchmal nur noch jeden zweiten. Da kommen einige Handvoll Demonstranten zusammen mit alten geklebten Transparenten. Auf irgendeinem zentralen Platz oder am Bahnhof. »Hartz IV, und der Tag gehört dir«, zischt ihnen dann ein Passant zu, aber eigentlich kümmert das alles niemanden mehr. Hin und wieder schreibt eine Zeitung einen Artikel darüber – aber das dient dann nur dem Zweck, das Scheitern dieser Proteste und das Vergessen, in das sie geraten sind, für alle sichtbar festzustellen.
    Es hat seit dem Jahr 2003 keine große Gewerkschaft mehr eine echte Machtprobe gesucht. Nur noch die kleinen. Das ist interessant. Die großen Gewerkschaften lebten stets von der Utopie der besseren Arbeitsgesellschaft, vom Pathos des Klassenkampfs, von dem gedanklichen Vorrat also, der bekanntlich in unserer globalisierten Moderne nichts mehr wert ist und niemanden mehr begeistert. Sie waren Säulen der sozialen Marktwirtschaft und Stützen des rheinischen Kapitalismus. Bis der Kapitalismus aufhörte, rheinisch zu sein, und von den großen Gewerkschaften kaum mehr als große Erinnerungen übrig waren. Solche Erinnerungen, wie sie der Rentner Heinz Budarek hatte, jene Figur aus der großartigen Schimanski-Folge »Schicht im Schacht« aus dem Jahr 2008. Der Mann saß vor dem Fernseher und sah sich weinend Bilder von den Streiks an, mit denen einst gegen die Schließung von Zechen und Stahlwerken protestiert wurde. Das waren Bilder aus einer Zeit, als die Arbeit zwar weniger wurde, aber noch reichlich Solidarität vorhanden war.
    Die kleinen Gewerkschaften funktionieren ganz anders. Streikposten kennen die nur aus dem Fernsehen. Sie kümmern sich wenig um den Klassenkampf. Aber dafür umso mehr um ihre Mitglieder. Und das machen die kleinen Gewerkschaften sehr effizient. Sie haben einen denkbar schlechten Ruf bei den Arbeitgebern, bei den großen Gewerkschaften, in der Öffentlichkeit. In Wahrheit haben die kleinen Gewerkschaften die Logik des Neoliberalismus in den Arbeitskampf übertragen. Und sie sind damit geradezu unheimlich erfolgreich. So sehr, dass sich die Stimmen mehren, die ihr Verbot fordern. Eine Arbeitnehmerorganisation, die die Arbeitgeber tatsächlich das Fürchten lehrt, das ist heute gar nicht mehr vorgesehen.
    Was ist eine große Gewerkschaft? Die IG Metall mit immer noch 2,2 Millionen Mitgliedern ist groß. Verdi mit zwei Millionen ist groß. Selbst die Lehrer-Gewerkschaft mit 263.000 Mitgliedern oder die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten mit rund 200.000 Mitgliedern sind große Gewerkschaften im Vergleich zu den kleinen. Die

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